von Hartmut Peters
- Der Aufstieg der Juden von Neustadtgödens und ihre Synagoge
- Die Juden von Neustadtgödens im Zeitalter des Antisemitismus
- Der Pogrom von 1938
- Der Pogrom-Prozess
- Die Opfer des Holocaust
- Das Synagogengebäude nach 1945
1.) Der Aufstieg der Juden von Neustadtgödens und ihre Synagoge
Der 1544 am Schwarzen Brack als Sielhafen gegründete Flecken Neustadtgödens entwickelte sich bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts zu einem florierenden Handelsplatz der Herrlichkeit Gödens unmittelbar an der ostfriesisch-oldenburgischen Grenze. Die günstige geographische Lage und das struktur- und fiskalpolitische Kalkül der Herrschaft, ungestörte Religionsausübung auszuloben, führten zur Ansiedlung von Mennoniten, Reformierten, Katholiken und Lutheranern und schließlich um 1639 auch von Israeliten. Die von den Herren von Fridag angelegte Siedlung verlor zwar durch den Bau des Ellenserdammes nach 1615 ihren offenen Zugang zum Jadebusen, jedoch kam es dennoch zu einer Blütezeit: Die Doppel-Sielanlage durfte nach einem Urteil des Reichsgerichtshofs steuerfrei genutzt werden und die Ansiedlung von Mennonitischen Leinenwebern während des Dreißigjährigen Krieges erwies sich als wirtschaftlicher Glücksfall. Die Chance zum grenzüberschreitenden Verkehr haben vermutlich auch die Juden besonders genutzt. Neben dem Handel mit Vieh, Pferden und Fleisch und dem Klein- und Landhandel mit Altkleidern und anderen Produkten stellten sie zeitweise auch Leder und Pergament in kleinen „Fabriken“ her.
Die heute häufig zu plakativ für Neustadtgödens ins Feld geführte „Toleranz“ war religiöser, nicht rechtlicher Natur und entsprang einem wirtschaftlichen Kalkül der Herrschaft. Damit unterschied sich der Ort kaum von anderen in Ostfriesland, wo ebenfalls aus ökonomischen oder politischen Gründen Mennoniten und Juden angesiedelt wurden, aber deutlich zum Beispiel vom benachbarten Jeverland. Für dieses gestattete die in Zerbst residierende Herrschaft erst 1776, nach Jahrzehnten massiver Unterdrückung des israelitischen Kultus, ihren wenigen Schutzjuden die freie Religionsausübung. Grundsätzlich galten auch die Juden der Herrlichkeit Gödens wie sonst überall als „Fremde“ und benötigten für ihre Niederlassung einen Schutzbrief, der, gegen eine Einmalzahlung erteilt, jährlich durch die Abgabe von zwei Dukaten zu bestätigen war. Schutzgeldpflichtig waren die überwiegend als arm eingestuften Gödenser Juden lange Zeit sogar doppelt, nämlich den Grafen bzw. Fürsten von Ostfriesland und den Herren zu Gödens gegenüber, welche außer dem jährlichen Schutzgeld jeden November zusätzlich noch von jedem jüdischen Haushalt eine “Martins-Gans” verlangten. Außerdem unterlagen die Juden beruflichen Einschränkungen. Auch zwischen die Christen setzte die Herrschaft Unterschiede: Die Mennoniten mussten ebenfalls Schutzgeld zahlen.
Es entstand in Neustadtgödens eine ca. 250 Jahre andauernde, regionale Sonderentwicklung, an deren Höhepunkt im Jahre 1848 von den 789 Einwohnern des Ortes 197 Personen, mithin 25%, jüdischen Glaubens waren. Damit lebten hier im Verhältnis mehr Juden als vermutlich an allen anderen Orten Norddeutschlands. In absoluten Zahlen kam Neustadtgödens relativ dicht hinter den wesentlich einwohnerstärkeren Städten Emden, Leer und Aurich und – zu diesem Zeitpunkt – noch vor den ebenfalls deutlich größeren Nachbarn Jever, Wittmund und Varel. Aus dieser Zeit stammt auch die bis heute älteren Einwohnern bekannte, meist abwertend gemeinte Bezeichnung „Klein-Jerusalem“ für den Ort.
Die in Neustadtgödens vertretenen christlichen Religionsgemeinschaften errichteten im Laufe der Entwicklung eigene, teilweise recht stattliche Kirchen: Lutheraner 1695, Reformierte 1715, Katholiken ebenfalls 1715, Mennoniten 1741. Eine jüdische Versammlungsstätte mit Betraum und Schule wird erstmals im Jahre 1752 erwähnt, wird aber schon vorher bestanden haben. Es ist unwahrscheinlich, dass es sich um ein eigens zu diesem Zwecke errichtetes Gebäude handelte. Aufgrund des starken Anwachsens ihrer Mitgliederzahl erwarb die Gemeinde 1832 ein Grundstück, auf dem sie ein neues Schulgebäude mit Lehrerwohnung errichtete. Die inneren Verhältnisse im Ort waren nicht durchweg von Toleranz geprägt. Das zeigt der bis nach Jever ausstrahlende „Gödenser Pogrom“ gegen die Juden vom 5. Mai 1782, in dessen Verlauf der Mob in fast allen jüdischen Häusern die Fenster einwarf und bei dessen Niederschlagung durch die Obrigkeit zwei Bauernsöhne erschossen wurden.
Ein deutliches Zeichen von Selbstbewusstsein setzten die Juden von Neustadtgödens 1852/53 mit dem Bau einer freistehenden Synagoge vom Typus der kleinen Stadtsynagoge im damals gerade aufgekommenen Rundbogenstil. Der ab 1830 entstandene Stilmix verband Elemente aus Klassizismus, Romanik und früher italienischer Renaissance. Er hatte weniger christliche Anmutung als die Gotik und eignete sich so besonders für synagogale Neubauten, aber auch für moderne protestantische Kirchen. Von Karl Friedrich Schinkel (1781 – 1841) liegt hierfür ein Musterentwurf vor. Jüdische Bethäuser im Stil von Neustadtgödens entstanden um 1850 in ganz Deutschland, so z.B. in Erfurt, Rendsburg, Sinsheim und Varel.
Die neue Synagoge wurde auf dem Platz der alten Versammlungsstätte erbaut, an der früheren Sielstraße (heute Kirchstraße 47). Der längsrechteckige Baukörper misst in der Länge 15,30 Meter, in der Breite 9,60 Meter und ca. 10 Meter in der Höhe. Das flachgeneigte Satteldach zeigt zur Straßenseite (Osten) einen klassischen Dreiecksgiebel. Zur Rückseite ist es abgewalmt. Von der Straßenflucht tritt das Gebäude um ca. 5,50 Meter zurück. Der so gebildete, ehemals begrünte Vorplatz hat vermutlich als eine Art Vorhof im Synagogenbau Tradition (vgl. auch die jeversche Synagoge von 1880) und wurde durch ein ca. 1,80 Meter hohes Ziergitter von der Straße abgetrennt. Hier befand sich nicht der Eingang, wie man vom heutigen Bauzustand her meinen möchte, sondern auf der gegenüberliegenden Seite (Männer) bzw. auf der Südseite (Frauen). Der Thoraschrein ist nach Osten, nach Jerusalem, auszurichten. Über dem Männereingang befand sich eine sandsteinerne Relieftafel mit dem Psalmvers (118,26) „Gelobet sei, der da kommt im Namen des HERRN! Wir segnen euch, die ihr vom Hause des Herrn seid.“ Die Tafel ist an alter Stelle erhalten geblieben.
Durch eine symbolträchtige Wandgliederung, hebräische Inschriften in Rundbogen und Giebel, die nicht erhalten sind, und den Davidstern als Giebelkrönung an der „Schauseite“ der Straße sollte die Synagoge eine gleichrangige repräsentative Wirkung ausstrahlen wie die Kirchen und damit den erhofften Status der israelitischen Kultusgemeinde aufzeigen. Die Fassade erscheint geradezu tempelartig, da sie durch zwei Kolossalpilaster eingefasst wird, in deren Mitte zwei kleinere, mit Rundbogen verbundene Säulen auf den im Inneren dahinter stehenden Thoraschrein hinweisen. Der eigentliche Betsaal maß 11,4 mal 8,8 Meter, die Frauenempore befand sich über dem Eingangsbereich im Westen. Der Grundriss folgte dem allgemeinen Schema mit einer mittigen Bima. Insgesamt bot die Synagoge vielleicht 120 Personen Platz. Der Innenraum war ursprünglich reich bemalt. Die letzte farbliche Fassung von 1902 anlässlich des 50. Jubiläums der Synagoge wurde in Resten bei der Rekonstruktion 1986 sichtbar. In einem Haus in der Staustraße, ca. 300 Meter entfernt, befand sich die Mikwe, die jedoch schon weit vor 1919 nicht mehr benutzt wurde. (Angaben weitgehend nach Hegenscheid/Knöfel, 1988)
2.) Die Juden von Neustadtgödens im Zeitalter des Antisemitismus
Mit dem Aufblühen des 1869 gegründeten preußischen Marinestützpunkts Wilhelmshaven begann der zunächst nur schleichende wirtschaftliche Niedergang Neustadtgödens, der aus soziostrukturellen Gründen den jüdischen Bevölkerungsteil besonders dezimierte. Durch die Abspaltung der Wilhelmshavener Juden im Jahre 1899, die bis dahin zu Neustadtgödens gehörten, verlor die Synagogengemeinde potente Förderer. 1909 lebten unter den 600 Einwohnern noch 83 Juden, 1925 bei 574 nur noch 25 und 1933 bei 505 Einwohnern allein 12.
Es ist zu vermuten, dass eine extreme politische Entwicklung im direkten geographischen Umfeld zumindest die jüngeren Juden mit zum Verlassen des Ortes veranlasst hat: Bei den Reichstagswahlen vom Mai 1924 erzielte der „Völkisch-Sozialer Block“ (VSB), ein aggressiv antisemitisches Bündnis der sich formierenden Nationalsozialisten mit den Deutschvölkischen zur Zeit der Festungshaft Hitlers, im Kreis Wittmund, zu dem Neustadtgödens bis 1972 gehörte, einen republikweiten Spitzenwert von 46,4% der Stimmen. Die ebenfalls die Demokratie ablehnende DNV erreichte 14,6%. Die extreme Rechte vereinigte hier also bereits Jahre vor ihrem rasanten Aufstieg, der 1933 die Weimarer Republik beendete, insgesamt 61% der Wähler. Soziostrukturell war Neustadtgödens eine Mischung aus Resten des angestammten Kleinbürgertums und von nach Wilhelmshaven orientierten Arbeitern, was es von den meisten ostfriesischen Nachbarorten unterschied, in denen das Landvolk dominierte. Deshalb fasste in Neustadtgödens die NSDAP nicht so breiten Fuß wie in den Nachbardörfern. 1924 stimmten im direkt angrenzenden Gödens 80,2% für den VSB, in Horsten, wozu das Horster Grashaus der jüdischen Familie de Taube gehörte, 75% , in Wiesede, Marcardsmoor und Friedeburg 76,1% , 88,0 % bzw. 94,5 %. 1924 traten im Kreis Wittmund der „NSDAP-Reichsredner“ Johann „Jann“ Blankemeyer (1898 – 1982) aus Hude, der auf Plattdeutsch seine Zuhörer erreichte, und der ebenfalls extrem antisemitische Heinrich van Dieken, ein Lehrer aus Carolinensiel, mit durchschlagendem Erfolg auf. Auch der Schumachermeister Heinrich Bohnens (1891 – 1952) aus Friedeburg, der spätere NSDAP-Reichstagsabgeordnete und NSDAP-Kreisleiter von Wittmund und Aurich, war unter den frühen regionalen Nationalsozialisten, die 1927/28 ihre ersten Ortsgruppen bildeten. Der „Anzeiger für Harlingerland“ des Verlegers Enno Mettcker (1873 – 1946 ), der fast das Monopol besaß, unterstützte redaktionell die extreme Rechte während der gesamten Weimarer Republik. Hiermit verfolgte die Zeitung dieselbe publizistische Tendenz wie das ebenfalls Mettcker gehörende „Jeversche Wochenblatt“, das das Amt Jever bearbeitete. Die politische Situation in Neustadtgödens kann jedoch noch bis zum Beginn der Wirtschaftskrise 1929 als demokratisch und liberal bezeichnet werden. Bei der Landtagswahl von Mai 1928 bekamen die Parteien dieses Spektrums eine deutliche Mehrheit. Das galt nicht für den übrigen Landkreis Wittmund: Im benachbarten Horsten beispielsweise lagen NSDAP (56, 2 %) und die z.T. völkisch orientierte Landvolk-Partei (21,7 %) unangefochten an der Spitze.
Bei den Reichstagswahlen von März 1933 erzielte die NSDAP im Kreis Wittmund mit 71,0 % (Reich 43,9 %) eines ihrer Spitzenergebnisse. Sie hatte hier auch schon vor der Wirtschaftskrise 1928 mit 37,4 % republikweit aufhorchen lassen. Hinzuzählen muss man 1933 noch 15,4% (Reich 8,0 %) für die verbündete DNVP („Kampffront Schwarz-Weiß-Rot“). Insgesamt 86,4% (Reich 51,9%) der Wähler sprachen sich für das offen antisemitische, demokratieablehnende und außenpolitisch revanchistische Projekt „Drittes Reich“ der Regierung Hitler / von Papen aus, obwohl in der Masse sicherlich auch andere Motive zählten. In Neustadtgödens erhielt die NSDAP von den 271 abgegeben Stimmen 162. Diese nur in der geographischen Relation moderaten 59,8 % ergeben mit den 5,2 % der DNVP insgesamt 65,0 %. Immerhin kam die SPD hier noch auf 25,5 %. In der zum Amt Jever gehörenden, wie Neustadtgödens nach Wilhelmshaven ausgerichteten Nachbargemeinde Sande war das Bündnis Hitler/von Papen mit 64,0 % ähnlich erfolgreich. In Friedeburg jedoch erreichte es 98,4 %, in Gödens 83,4 %, in Hesel 99,2 %, in Horsten 88,3 %, in Leerhafe 97,1 % und in Marx 97,3 %.
Die Ergebnisse in den ostfriesischen Nachbarorten für die NSDAP allein gingen meist über 80 % hinaus:
- 84,% Etzel (288 von 343 Stimmen)
- 85,3 % Friedeburg (370 von 438 Stimmen)
- 75,5 % Gödens (336 von 445 Stimmen)
- 76,9 % Hesel (190 von 247 Stimmen)
- 82,6 % Horsten (405 von 490 Stimmen)
- 87,0 % Leerhafe (779 von 895 Stimmen)
- 92,2 % Marx (485 von 526 Stimmen)
Dem gesellschaftlichen Druck auf die Juden folgten nach der Machtübertragung an die NSDAP 1933 antisemitische Maßnahmen der Partei und des Staatsapparats. Sie forcierten den Wegzug aus Neustadtgödens in weniger enge Verhältnisse und die Emigration. Im Urteil von 1949 über den Pogrom vom November 1938 in Neustadtgödens und Horster Grashaus, heißt es:
„Für das politische Gesicht des Fleckens während des NS-Regimes waren zwei Umstände maßgebend: Der größte Teil der arbeitenden Bevölkerung fand Beschäftigung bei der Kriegsmarinewerft in Wilhelmshaven. Bei diesem reichseigenen Rüstungsbetrieb wurde größter Wert darauf gelegt, nur solche Arbeitskräfte einzustellen und zu beschäftigen, die sich positiv zum Nationalsozialismus einstellten. Für die landwirtschaftliche Bevölkerung war von besonderer Bedeutung, dass der größte Grundbesitzer der Gegend, Graf Wedel auf Schloss Gödens, von dem weite Kreise als Pächter landwirtschaftlicher Grundstücke oder landwirtschaftliche Arbeiter mehr oder minder abhängig waren, als überzeugter Nationalsozialist auftrat. Nur aus diesen Umständen ist die immerhin auffällige Tatsache zu erklären, dass nach 1933 fast die gesamte männliche Bevölkerung, darunter Männer im vorgerückten Alter, der SA beitrat.“
Welche Rolle die am 12. Februar 1932 formal gegründete Ortsgruppe der NSDAP Gödens-Neustadtgödens unter ihrem anfänglichen Leiter Haro Burchard Graf von Wedel (1891 – 1966) und die örtliche SA genau gespielt haben, ist unbekannt. Robert de Taube (1896 – 1982) vom Horster Grashaus erwähnt für die Anfänge der NS-Zeit in seinen Erinnerungen den Boykott vom 1. April 1933, das Umstürzen von Milchkannen an der Straße von Horsten nach Blauhand, Schwierigkeiten beim An- und Verkauf von Weidevieh und bei der Aufnahme von Pferden in das Ostfriesische Stutbuch. Am Eingang zu der zum Grashaus führenden Allee wurde das Plakat „Juden unerwünscht!“ angebracht. In Neustadtgödens hing das antisemitische Hetzblatt „Der Stürmer“ in einem sog. Stürmer-Kasten aus. Bei den zahlreichen Kundgebungen und Umzügen der NS-Verbände wurden die üblichen „Kampflieder“ und Parolen gebrüllt. Der inzwischen verstorbene Ortschronist E. Hegenscheid schweigt sich gerade in konkreten Punkten aus. Die Repressionen, die über das staatlich verfügte Maß hinausgingen, werden ähnlich schäbig gewesen sein wie in dem besser dokumentierten Jever.
Am 15. März 1936 gab die jüdische Gemeinde Neustadtgödens ihre Synagoge mit einem feierlichen Gottesdienst durch den Landesrabbiner Dr. Samuel Blum aus Emden (1883 – 1951) auf. Vorausgegangen war eine angeordnete Schließung wegen angeblicher Baufälligkeit, hinter der wie in anderen Fällen eine Repressalie der NS-Behörden gegen den zentralen Identifikationspunkt vermutet werden darf. Gebäude und Dach erwiesen sich später als stabil. Allerdings besaß die Gemeinde 1936 nur noch wenige Mitglieder und hatte deshalb kaum noch Einkünfte zur Gebäudeunterhaltung. „Der Synagogenchor aus Jever unter Leitung des Lehrers Hartog, Wilhelmshaven, und unter Mitwirkung des Solisten Herr Rudolf Gutentag, umrahmte mit seinem Gesang die Feierstunde.“ („Der Israelit“ v. 26.3.1936) Der Psalm 43,5, über den Landesrabbiner Dr. Blum sprach, lautet: „Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist.“
Der 1887 in Aurich geborene Hermann Hartog wurde 1942 vom Lager Drancy bei Paris nach Auschwitz deportiert, der Großkaufmann Rudolf Gutentag, geboren 1893 in Jever, beging Ende 1939 in aussichtsloser Lage Selbstmord, Dr. Samuel Blum emigrierte 1939 nach Palästina.
Ende Juni 1938 verkaufte die Gemeinde die aufgegebene Synagoge an einen nichtjüdischen Tischler aus Wilhelmshaven. „Wie verlautet, ist der Kaufpreis 2.500 RM. Der Käufer beabsichtigt, hier Wohnungen einzubauen, und ist schon mit den Aufräumungsarbeiten beschäftigt.“ (Anzeiger für Harlingerland, 25.6. 1938). Deshalb gehörte sie neben den Synagogen von Bunde, Dornum, Norderney und Wittmund, die ebenfalls bereits veräußert worden waren, zu den wenigen Synagogen Ostfrieslands, die nicht beim Novemberpogrom 1938 zerstört wurden. Eigentum von „Ariern“ zu zerstören, hätte von den Verantwortlichen zu akzeptierende Schadensersatzforderungen nach sich gezogen. Nach dem Krieg erzählte man im Ort, in der ausgeräumten Synagoge habe sich ein Farbenlager befunden, sie sei wegen der Explosionsgefahr und Gefährdung benachbarter Gebäude nicht angesteckt worden. Diese Begründung mag tatsächlich eventuell 1938 auch eine Rolle gespielt haben, denn der Besitzerwechsel war der befehlenden SA-Standarte in Emden zu Beginn des Pogroms vielleicht nicht bekannt. Sie erfüllte nach dem Krieg die Funktion der Entlastung der Täter an der Misshandlung der Juden. Der Verbleib des Inventars der Synagoge ist bis heute ungeklärt, erst vor wenigen Jahren wurden Akten der jüdischen Schule im Nachlass von Enno Hegenscheid aufgefunden.
In Neustadtgödens und im ca. 2 km entfernten Horster Grashaus, einem großen landwirtschaftlichen Anwesen der angesehenen Familie de Taube, auf dem eine landwirtschaftliche Ausbildung für die Emigration nach Palästina (Hachscherah) vermittelt wurde, begann der reichsweit initiierte Pogrom am frühen Morgen des 10. November. Gegen ca. 3 Uhr früh erreichte der sog. Aktionsbefehl der übergeordneten SA-Standarte 1 in Emden den „zuständigen“ SA-Sturm 38/1 per Telefon. Die Anweisung lautete nach dem Urteil im Pogrom-Prozess von 1949:
„ 1. Die im Sturmbereich wohnenden Juden sind sofort festzunehmen. 2. Gelder und Wertsachen, die sie im Besitz haben, sind sicherzustellen. 3. Falls sich im Sturmbereich eine Synagoge befindet, ist diese niederzubrennen.“
Ziel der unverzüglich nach dem Zusammentreffen auf dem Alarmplatz Schulhof organisierten, gesetzlosen Ausschreitungen waren in Neustadtgödens alle sieben hier zu diesem Zeitpunkt noch lebenden Juden sowie alle elf Juden vom Horster Grashaus. Mit der Ausnahme von Johanna de Taube, der schwerkranken Ehefrau von Salomon Taube, wurden sie am frühen Morgen aus dem Schlaf heraus festgenommen und zu einem Sammelpunkt in Neustadtgödens verschleppt. Robert de Taube:
„Es war am 9. November 1938, ich saß in der Stube am Radio, da hörte ich zufällig, dass gegen die Juden in Deutschland etwas unternommen würde. Es war 10 Uhr abends, mein Vater war schon schlafen gegangen. Ich wollte erst hinaufgehen und mit ihm sprechen, dann dachte ich, hier auf dem Lande würde nichts passieren. […] Es mochte gegen 1 Uhr gewesen sein, als Helmut Josephs mich rief: „Herr de Taube, kommen Sie herunter, lauter SA-Männer haben den Hof umstellt!“ Es mögen 15 bis 18 Leute gewesen sein, vor jedem Fenster stand ein Mann: Sie wollten hereinbrechen. Ich lief zum Telefon und rief Wachmeister Pieper in Neustadtgödens an, was eigentlich los wäre. Herr Pieper erwiderte, er wüsste von nichts, er wolle seinen Vorgesetzten anrufen. Ich bekam aber keine Antwort. Inwischen brachen von der Gartenseite durch die Veranda etliche SA-Männer herein. Der Anführer war Haake. Er fragte mich in frechem Ton, was ich gemacht hätte. Ich erwiderte, dass ich die Polizei angerufen hätte, weil sie hier einbrechen wollten. Haake beschimpfte mich und trieb mich mit seinem Gewehr nach oben. Ich sollte mich sofort anziehen. […] Durch das Geschrei der Leute wurde mein alter Vater wach, […], er musste sofort aufstehen. Als ich nach unten kam, hatten die SA-Leute alles aufgewühlt und Schränke aufgerissen und nach Wertsachen durchsucht. Sie schrien mich an: `Wo hast du dein Geld?´ – `Ich habe kein Geld, ich schreibe bloß mit Schecks.´ Der junge Joosten, mein Nachbar, kam herein. Ich fragte ihn, was dieses bedeuten solle. `Ihr habt den Rath erschossen´, worauf ich erwiderte: `Ihr seid wohl verrückt geworden.´“
Auf dem Platz neben der Gastwirtschaft „Stadt Hannover“ (Einmündung Kirch- in Brückstraße) mussten die Juden unter Bewachung zunächst einige Stunden im Freien öffentlich ausharren. Im schräg gegenüberliegenden „Sturmbüro“ der SA , das sich in der „Alten Pastorei“ befand, konfiszierte derweil die SA die Geld- und Wertsachen. Die Opfer mussten einzeln in das „Sturmgeschäftszimmer“ eintreten und ihr Bargeld und Sachen wie Uhren und Schmuck auf den Tisch legen. Später erfolgten noch Leibesvisitationen durch die Polizei. Alles wurde für jeden einzelnen gesondert in einen mit dem Namen versehenen Umschlag verpackt. Der Schriftführer des SA-Sturms fertigte in dreifacher Ausfertigung eine Liste an, in der er die Namen der festgenommenen Juden und die abgezwungenen Werte eintrug. Die Angaben dieser Aufstellung sind über eine erhaltene „Schlussabrechnung“ der Gestapo-Leitstelle in Wilhelmshaven vom 31.3.1939 dokumentiert. Einzelne Juden hatten sich offenbar noch Geldbeträge von bis zu 120,– RM einstecken können, während das anderen, wohl auch aus Mittellosigkeit, nicht möglich war. Der Ford-Kraftwagen Robert de Taubes wurde mit 1.115,– RM beziffert.
Käthe de Taube wurde noch vor dieser Beraubungsaktion zur Pflege ihrer Mutter Johanna nach Hause entlassen. Sechzehn Personen wurden gegen 9 Uhr unter Bewachung der zahlreichen im Ortsbild sich aufhaltenden SA-Männer zum „Hotel zur Deutschen Eiche“, das der Synagoge schräg gegenüberlag, geführt und dort in einem im Obergeschoss gelegenen Saal, zunächst unter SA-Bewachung, festgehalten. Die übrigen fünf jüdischen Frauen – Bertha Cohen und Rosa Stein aus Neustadtgödens sowie Anneliese Meyersohn, Edith Pinkus und Rita Pinkus vom Hoster Grashaus – kamen auf Order der SA-Standarte Emden einige Stunden später wieder frei. Sie durften aber anschließend nicht ihre von SA-Posten bewachten Häuser verlassen. Das galt auch für die nichtjüdische Ehefrau von Alfred Weinberg, der Erschießung angedroht wurde, als aus ihrem Haus trat. Gegen 10 Uhr übernahm die Gendarmerie auf Grund einer Anordnung des Wittmunder Landrats Adolf von Nassau die Juden in polizeiliche „Schutzhaft“. Die lediglich ein bis zwei Polizisten zogen SA-Männer zur Unterstützung heran. Ob diese Statusänderung zu der Polizeihäftlingen zustehenden Verpflegung, auch für den kommenden Tag, geführt hat, ist unbekannt.
Im Laufe des frühen Nachmittags inspizierten drei höhere NS-Funktionäre die elf Männer in dem illegalen Gefängnis, darunter der NSDAP-Kreisleiter und der SA-Sturmbannführer. Sie sollen zur Verschärfung der Situation beigetragen haben. Man bezichtigte Robert de Taube fälschlich des Besitzes von Munition und bedrohte ihn. Über die kommende Nacht wurden die Männer ebenfalls im Saal festgehalten, Decken und Kissen hatten die im Ort wohnenden jüdischen Frauen zu bringen. Verpflegung besorgte der kurzfristig zur Klärung laufender Viehverkäufe unter Bewachung in einem Auto zum Grashaus gebrachte Robert de Taube aus eigenem Besitz. Die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) brachte Kaffee.
Donnerstag, 10. November 1938, war ein Werktag. Zivilisten, Schulkinder und Personen, die auf die in der Nähe haltenden Omnibusse warteten, hatten unmittelbaren Zugang zum unübersehbaren Geschehen. Absperrungen gegen neugierige Unbeteiligte erfolgten nicht. An den Aktionen in Neustadtgödens und auf dem Horster Grashof waren insgesamt ca. 80 SA-Leute beteiligt. Hinzu kamen Personen des SA-Reitersturms und des NSKK. Etwa 40 SA-Leute beherrschten zeitweilig die wenigen und engen Straßen von Neustadtgödens und kommunizierten auf Zuruf. Brutale Ausschreitungen und Gewalttätigkeiten, wie sie für viele Orte Ostfrieslands und Oldenburgs dokumentiert sind, hat es vermutlich nicht gegeben. In den Gebäuden vom Horster Grashaus, die die SA okkupiert hatte, wurde geplündert.
Friedrich Cohen, Richard Stein, Salomon de Taube und Alfred Weinberg aus Neustadtgödens sowie Kurt Herz, Helmut Josephs, Jan Lazarus, Rudolf Lion, Kurt Stern, Robert de Taube, Samuel de Taube und Arthur van der Wall vom Horster Grashaus wurden am Morgen des 11. November von der Polizei auf einem Lastwagen, der sonst für Viehtransporte genutzt wurde, zur Reichsbahnstation Sande gebracht. Die Bevölkerung soll sich bei der demütigenden Aktion „korrekt“ verhalten haben. Vor der Schule, an der der LKW vorbeifuhr, sangen unter Anleitung eines der beiden Lehrer, die sich im Ermittlungsverfahren gegenseitig die Schuld zuschoben, Schulkinder eines der übelsten NS-Lieder, in dem es hieß: „Schmeißt die ganze Judenbande raus aus unserem Vaterlande!“ (Urteil, S. 31) Das Lied lautet vollständig: „Wenn´s Judenblut vom Messer spritzt, dann geht´s nochmal so gut. Schmeißt sie raus, die ganze Judenbande, schmeißt sie raus aus unserem Vaterlande. Schickt sie nach Jerusalem und schlaget ihnen die Beine ab, sonst kommen sie wieder heim.“
Vom Bahnhof Sande transportierte man die Menschen per Bahn zusammen mit den übrigen im Kreis Wittmund festgenommenen nach Oldenburg. Außer den nicht in die Altersvorgabe passenden Salomon de Taube (81 Jahre), Samuel de Taube (83 Jahre), Jan Lazarus und Kurt Herz (14 Jahre bzw. 16 Jahre alt), die in Oldenburg frei kamen frei kamen, wurden sie von hier zusammen mit den Juden aus Oldenburg Stadt und Land, Wilhelmshaven und Kreis Wittmund in das KZ Sachsenhausen in Oranienburg bei Berlin verschleppt. Jan Lazarus (1923 Oldenburg, 1938 Emigration mit einem “Kindertransport” nach England, gest. 2006 Oldenburg) wies 2002 darauf hin, dass die Freilassung erst auf Intervention durch Robert de Taube in Oldenburg geschehen sei. Lazarus, der wie Rudolf Lion in einem dem Wohngebäude gegenüberliegenden, kleineren Gebäude, dem sogenannten “Backhaus” schlief, hatte wohl als erster die eindringende SA auf dem Horster Grashaus bemerkt und vergeblich versucht, seinen Lehrherrn aufzuwecken. Aus dem KZ Sachsenhausen kamen die Verschleppten nur mit der Auflage frei, sofort auszuwandern und über die Haftzeit absolutes Stillschweigen zu bewahren. Robert de Taube, der am 9. 12.1938 entlassen wurde, schildert die Qualen dieser Wochen eindringlich in seinen Erinnerungen. Er durfte nicht auf sein beschlagnahmtes landwirtschaftliches Anwesen zurück, das die Hannoversche Siedlungsgesellschaft zügig an 25 Bauern der Nachbarschaft verteilte. Ein weiterer, großer Teil wurde vom Kreisbauernführer Erich Reents aus Uttel bei Wittmund eingenommen. Robert de Taube hielt sich danach bis Anfang 1940 in Wilhelmshaven auf.
Ende Januar 1940 zwang die Gestapo Wilhelmshaven die letzten in Neustadtgödens noch lebenden Juden – wie auch die anderen des „Gaus Weser-Ems“ mit der Ausnahme der „arisch Verheiraten“ – zum Umzug in Großstädte östlich des Rheins. Richard Stein, seine Ehefrau Rosa geb. Wertheim, Friedrich Cohen und seine Ehefrau Bertha hatten binnen weniger Wochen ihre Haushalte aufzulösen und umzuziehen. In einem Schreiben vom 21. Mai 1940 teilte der Landrat des Kreises Wittmund dem Regierungspräsidenten in Aurich lapidar mit: „Im Kreise Wittmund ist nur noch der Jude Alfred Weinberg in Neustadtgödens wohnhaft.“ Der mit einer Nichtjüdin verheiratete Weinberg musste später in Zwangsarbeitslager, im Februar 1945 wurde er nach Theresienstadt deportiert, wo er bei Kriegsende befreit wurde. Weitere Informationen über die Umstände der Zwangsumsiedlung von 1940
Ermittlungen zu den antijüdischen Ausschreitungen im Landkreis Wittmund nahm die zuständige Staatsanwaltschaft erst im Oktober 1946 auf, nachdem der zurückgekehrte Robert de Taube am 20. Juli 1946 eine Anzeige bei der britischen Militärregierung in Hannover aufgegeben hatte. Offenbar hatte das bereits im September 1945 mit einer entsprechenden Bestandsaufnahme für den Regierungspräsidenten beauftragte Landratsamt Wittmund bisher keine konkreten Ergebnisse zugeliefert. (Bahlmann, 2013, S. 55). Über die sog. „Aufholaktion gegen die Juden“ vom 10./11. Nov. 1938 in Neustadtgödens und beim Horster Grashaus fand schließlich 1949 vor dem Landgericht Aurich, das im Wittmunder Hotel „Bremer Schlüssel“ tagte, aber Vernehmungen der Angeklagten und Zeugen in der Gastwirtschaft “Borchers” in Neustadtgödens durchführte, ein nur wenige Verhandlungstage dauernder Prozess wegen der Delikte Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Freiheitsberaubung, Landfriedensbruch und verbrecherischer Erpressung statt. 24 ausfindig gemachte ehemalige SA-Leute waren angeklagt. Als Berufe der Angeklagten wurden angegeben: Bauarbeiter, Buchhalter, Elektromeister, Elektroschweißer, Kaufmann, Klempnermeister, Kupferschmied, Landarbeiter, dreimal Landwirt , Malermeister, Maurermeister, Maurer, Postassistent, Schlachter, Schmied, zweimal Tischler und Zimmermann, darunter viele Selbständige. Drei Angeklagte galten als „Invalide“.
Die beiden Hauptakteure, der Buchhalter Friedrich Haake aus Altgödens, und der Kaufmann Hermann Wehlau aus Neustadtgödens wurden im Urteil vom 6. Oktober 1949 zu neun Monaten Gefängnis verurteilt. Der Postassistent Georg Kleemann aus Neustadtgödens und der Landwirt Elimar Joosten aus Gödens-Wedelfeld bekamen sieben bzw. sechs Monate. 15 weitere Täter erhielten vier bzw. drei Monate, einer sechs Wochen, einer eine Geldstrafe von 50 DM. Drei Angeklagte wurden freigesprochen. Die Verurteilungen erfolgten in vier Fällen wegen schweren, in den übrigen Fällen wegen einfachen Landfriedensbruchs. Der Richter folgte hiermit offenbar hauptsächlich der Argumentation der Verteidigung und nicht der des Staatsanwalts. Im Neustadtgödenser Fall wird das „Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit“ vom 31.12.1949 zur Anwendung gekommen sein. Diese Amnestie erließ alle Freiheitsstrafen bis zu sechs Monaten. Zwischen sechs Monaten und einem Jahr konnte in eine Bewährungsstrafe umgewandelt werden, was in Ostfriesland mit einer Ausnahme immer geschah. (Bahlmann 2014, S. 175) Im strafrechtlichen Rollback der Bundesrepublik reduzierten eingelegte Revisionen und verrechnete Internierungszeiten selbst die seltenen Freiheitsstrafen von über einem Jahr häufig sehr stark.
Der Pogrom wurde so milde gesühnt, da eine härtere Bestrafung der Täter im Zeitalter der Kalten Kriegs nicht im Interesse der sich auf Restaurationskurs befindenden Adenauer-Republik war, in der Ex-Nazis bis weit in die 1970er Jahre hinein großen Einfluss hatten. Und 1949 gab es nur wenige Belastungszeugen. Die meisten Zeugen waren entweder ermordet oder emigriert oder akzeptierten das Gesetz des Schweigens oder hätten sich vielleicht auch selbst belastet. Das gilt für einen engen Ort wie Neustadtgödens, in dem fast jeder jeden kennt und mit ihm auch zukünftig auskommen muss, ganz besonders. Typisch ist auch, dass nachweisbare strafbare Handlungen inzwischen verstorbenen Personen zugeschoben wurden. Von den überlebenden Juden sagten Alfred Weinberg, Robert de Taube, Jan Lawrence (früher Lazarus) und Samuel de Taube, dessen Aussage verlesen wurde und der kurz darauf starb, aus.
Robert de Taube schreibt in seinem Bericht: “Der Amtsrichter fragte mich, ob ich Wert darauf legte, dass die Leute streng bestraft würden. Ich sagte: `Verdient hätten sie es.´Aber da ich hier weiter leben müsste, bat ich den Amtsrichter, die Strafen nicht zu hoch zu machen. […] Eines Tages kam der Sohn des Grafen von Wedel von Schloss Gödens zu mir und bat mich um eine Unterschrift, dass sein Vater kein Nazi gewesen sei. Sein Vater befinde sich noch in Internierung auf einer Nordseeinsel. `Leider kann ich Ihnen die Unterschrift nicht geben, denn Ihr Vater hat uns seinerzeit die Pachtung in Schlepens fortgenommen, die wir von der Familie von Wedel 40 Jahre gepachtet hatten, bloß weil wir Juden waren.´ Es haben dann wohl andere unterschrieben, so dass der Herr Graf von Wedel frei kam. Es ist mir heute noch ein Rätsel, dass gerade in Neustadtgödens soviele Nazis waren, wo die Juden mit den Leuten so gut ausgekommen waren und so viel für die ärmerer Bevölkerung getan hatten.” [Es handelte sich um sog. Persilscheine, die bei der Entnazifizierung von NS-Funktionsträgern wie dem Grafen Haro Burchard von Wedel eine Rolle spielen konnten. H.P.]
Die politisch verantwortlichen Institutionen Gemeinde Sande und Landkreis Friesland haben die Opfer des Holocaust aus Neustadtgödens erst ab dem Jahr 2015 erforschen lassen. Von den regionalen Historikern, die viel über den geschichtlich interessanten Ort publizieren, hatte davor allein M. Clemens ausführlich über die ermordeten Juden aus Neustadtgödens berichtet. Im öffentlichen Raum informieren seit 2006 Infotafeln bei Friedhof und Synagoge über die einst bedeutende jüdische Gemeinde. Über die Opfer heißt es auf der Info-Tafel bei der Synagoge missverständlich: „Viele ansässige Juden überlebten die NS-Gewaltherrschaft nicht.“ Die Ausstellung in der ehemaligen Synagoge, die im Juli 2015 eröffnet wurde, enthält jetzt u.a. ein Totenbuch mit den Namen der Opfer.
Als Opfer des Holocaust aus Neustadtgödens müssen nach einer Sichtung von frei zugänglichen Datenbänken, die keine Forschung ersetzt, gegenwärtig mindestens 14 Menschen gelten. Es wurde das Kriterium eines Wohnsitzes in der Zeit ab ca. 1930 angewendet. (Die Zahl der Opfer mit Geburtsort Neustadtgödens liegt aufgrund des wirtschaftlichen und demographischen Niedergangs des Ortes resp. des Fortzugs der jüngeren jüdischen Einwohner mit mindestens 45 weitaus höher.) Sieben der 14 waren in die Niederlande emigriert und nach der deutschen Okkupation in das Durchgangslager Westerbork bei Groningen verschleppt worden, von wo sie in die Vernichtungslager Sobibor und Auschwitz deportiert wurden.
- Bernhard Cohen, geb. 4.4.1917 in Neustadtgödens; er emigrierte 1935 in die Niederlande; am 20.7.1943 wurde er von Westerbork nach Sobibor deportiert, als Todestag gilt der 23.7.1943
- Frieda Cohen, geb. 27.5.1915 in Neustadtgödens; Tochter von Friedrich Cohen und Berta Cohen geb. Wallach; sie emigrierte 1935 in die Niederlande und hielt sich in Amsterdam auf; am 15.7.1942 wurde sie von Westerbork nach Auschwitz deportiert, als Todestag gilt der 26.8.1942
- Friedrich Cohen, geb. 7.12.1888 in Neustadtgödens; Nov. 1938 KZ Sachsenhausen; am 27.11.1941 von Berlin nach Riga deportiert, am 30.11.1941 im Wald von Rumbula ermordet
- Elise van Gelder geb. Cohen, geb. 4.4.1876 in Neustadtgödens; Tochter von Victor Feibel Cohen und Mietje Cohen geb. Breslauer; sie emigrierte in die Niederlande; am 20.4.1943 von Westerbork nach Sobibor deportiert; als Todestag gilt der 23.4.1943
- Philip van Gelder, geb. 22.9.1876 in Aalten (Niederlande); er emigrierte in die Niederlande; am 20.4.1943 von Westerbork nach Sobibor deportiert, als Todestag gilt der 23.4.1943
- Helmut Josephs, geb. 19.11.1908 Jever; Sohn von Bernhard Wolff Josephs und Helene Isaac Josephs geb. Sternberg; er wohnte auch in Jever; beim Pogrom 1938 im Horster Grashaus; November 1938 KZ Sachsenhausen; am 25.1.1941 von Paderborn in das Zwangsarbeitslager Schlosshofstraße in Bielefeld; von hier zu den Buna-Werken der IG Farben (KZ Monowitz) bei Auschwitz verlegt; er kam am 22.4.1943 ins KZ Auschwitz und starb dort laut „Krankenbuch“ am 10.6.1943. Sein Name befindet sich auf dem Mahnmal für die Ermordeten Juden Jevers in der Frl. Marienstraße.
- Herbert Josephs, geb. 24.4.1906 Neustadtgödens; Sohn von David Josephs und Jeanette (Schoontje) Josephs geb. Cohen; er emigrierte im Dezember 1935 in die Niederlande; am 1.11.1939 heiratete er in Amsterdam Berta Adler (6.11.1907 Neustadt – 27.8.1943 Auschwitz); 1943 von Westerbork nach Auschwitz deportiert; als Todestag gilt der 21. Januar 1945
- Georgine Knurr, geb. 11.6.1865 Neustadtgödens; sie emigrierte in die Niederlande; am 26.2.1943 von Westerbork nach Auschwitz deportiert
- Rosa Stein geb. Wertheim, geb. 1881 Netra (Hessen); Ehefrau von Richard Stein; am 18.11.1941 von Hamburg nach Minsk deportiert, Todestag 28.7.1942 Minsk/Ghetto
- Richard Stein, geb. 9.12.1885 in Neustadtgödens; Ehemann von Rosa Stein geb. Wertheim; Sohn von Uri Stein, Bruder von Samuel Stein; November 1938 KZ Sachsenhausen; am 18.11.1941 von Hamburg nach Minsk deportiert, Todestag 28.7.1942 Minsk/Ghetto
- Berline de Taube geb. Stein, geb. 29.4.1870; Ehefrau von Wolff de Taube (1860 – 1931 Jever); am 20.7.1942 von Hamburg nach Theresienstadt deportiert, von dort am 21.9.1942 in das Vernichtungslager Maly Trostenez bei Minsk deportiert. Sie wohnte zeitweise auch in Jever. Ihr Name befindet sich auf dem Mahnmal für die Ermordeten Juden Jevers.
- Conrad de Taube, geb. 20.10.1902 Neustadtgödens; von der Landesheilanstalt Wehnen am 21.9.1940 in die Landesheilanstalt Wunstorf verlegt; am 27.9.1940 in der Tötungsanstalt Brandenburg/Havel ermordet. Er wohnte zeitweise auch in Jever. Sein Name befindet sich auf dem Mahnmal für die Ermordeten Juden Jevers.
- Käthe de Taube, geb. 1.4.1899 Neustadtgödens; Tochter von Salomon de Taube; am 26.2.1943 von Berlin nach Auschwitz deportiert
- Salomon de Taube, geb. 28.2.1858 Neustadtgödens; er emigrierte 1939 zusammen mit seiner Frau Johanna, die kurz darauf starb, in die Niederlande; Salomon de Taube wurde 1942 von Westerbork nach Auschwitz deportiert, als Todesdatum gilt der 26.10.1942
Nach dem Ende des NS-Regimes kamen zurück: der erwähnte Alfred Weinberg (1896 – 1974), Samuel de Taube (1855- 1949) und seine Ehefrau Rosa de Taube geb. Weinberg (1861 – 1948), die hatten emigrieren können. Robert de Taube, der 1940 nach Berlin gegangen war, musste hier Zwangsarbeit leisten und entging dem ersten Deportationsbefehl durch Simulation von Rückenbeschwerden in einem Krankenhaus. Er tauchte 1943 ohne Papiere als „Landschaftsgärtner August Schneider aus Hamburg“ unter und überlebte mit Gelegenheitsarbeiten im Großraum Berlin. Er entkam polizeilichen Kontrollen auf Straßen, Bahnhöfen und in Häusern mehrfach nur knapp. Nach seiner Rückkehr 1945 hatte er trotz der Unterstützung der Militärregierung in Aurich Schwierigkeiten, den geraubten Familienbesitz vollständig zurückzubekommen. Die Grabsteine der Zurückgekehrten befinden sich auf dem jüdischen Friedhof an der Straße nach Gödens.
6.) Das Synagogengebäude nach 1945
1933 befanden sich auf dem Gebiet der heutigen niedersächsischen Landschaftsverbände Emsland, Oldenburg und Ostfriesland 27 Synagogen. 7 wurden vor dem 9. November 1938 von den jüdischen Gemeinden verkauft, alle übrigen 20 wurden Zielscheibe des Pogroms. 18 wurden niedergebrannt bzw. in einem Fall sofort abgerissen. Bei 2 Synagogen beschränkten sich die Täter auf die Verwüstung des Inneren, da man zu große Brandgefahr für die Nachbargebäude konstatierte. Diese beiden Gebäude wurden nach 1945 abgerissen. Von den 7 verkauften Synagogen wurde die Wittmunder bereits vor dem Pogrom abgerissen, 5 wurden nach 1945 in unterschiedlichen Graden bis zur faktischen Zerstörung baulich verändert (Berne, Bunde, Harpstedt, Neustadtgödens, Norderney). Nur die Synagoge von Dornum blieb baulich erhalten. Die von Neustadtgödens konnte aufgrund der erhaltenen Gebäudesubstanz 1986 außen weitgehend rekonstruiert werden. Als die einzig sichtbare (klein)städtische Synagoge des gesamten nordwestdeutschen Raums ist sie ein wertvolles Bau- und Kulturdenkmal.
Die Geschichte des stattlichen Baus nach 1945 spiegelt den auf Verdrängen geschalteten Umgang Westdeutschlands der Nachkriegszeit mit den Verbrechen an den Juden drastisch und bis fast in die Gegenwart wider. Das Erdgeschoss wurde ab ca. 1946 nach dem Einziehen einer nur thermischen Zwischendecke zunächst in ein Wohnhaus umgewandelt. Auch ein Schweinestall findet sich in der Planzeichnung. 1961 erwarb die politische Gemeinde Gödens das Gebäude zwecks Umbaus, der mit Bundesmitteln gefördert wurde, zu einem Feuerwehrhaus. Sie brach die kunstvolle Ostseite durch zwei LKW-Garagentore auf und zog eine Zwischendecke aus Beton ein, so dass ein 1. Stock nutzbar wurde. Von der originalen Bausubstanz im Inneren blieb nichts erhalten. Die Westseite wurde glücklicherweise etwas weniger zerstört. So diente die ehemalige Synagoge, die der Niederbrennung entgangen war, 25 Jahre als Feuerwehrhaus mit Fahrzeughalle, Gruppenräumen und zusätzlicher Mietwohnung. Eine kurze Zeit war auch eine Schulklasse untergebracht.
Als ein die zeitgemäßen Richtlinien erfüllendes Feuerwehrhaus zu errichten war, entstand eine neue Situation. Von 1986 bis 1988 ließ die Gemeinde Sande (Neustadtgödens gehört seit 1972 zum Landkreis Friesland) das Gebäude mit beachtlichen öffentlichen Zuschüssen von 270.000,– DM außen rekonstruieren, innen umstrukturieren und als Baudenkmal ausweisen. Die den synagogalen Raum nach oben hin begrenzende Betondecke von 1961 wurde allerdings nicht entfernt. Der damalige Gemeindedirektor sah die Gemeinde Sande aus finanziellen Gründen nicht in der Lage, hier einen Erinnerungsort einzurichten. So argumentierte er 1986 gegenüber der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Oldenburg e.V. und Einzelpersönlichkeiten, die solches vorschlugen. In der Tat war das Ziel der Gemeinde Sande zu dieser Zeit die Sanierung von Neustadtgödens und der Aufbau eines Heimatmuseums im ehemaligen Landrichterhaus. Die „Hannoversche Allgemeine Zeitung“ vom 5. April 1986 berichtet: „Dem christlich erzogenen Walter Weinberg, der von einem qualvollen Kinderleben als Halbjude in Neustadtgödens erzählt, ist es mittlerweise auch fast egal, was aus der ehemaligen Synagoge wird. `Wenn sie da wieder was Jüdisches hinstellen, dann wird es ja doch mit Hakenkreuzen beschmiert.´“
Im 1. Stock wurde eine Mietwohnung eingebaut, das Erdgeschoss als Galerie für Kunstausstellungen strukturiert und so auch einige Jahre genutzt. 2002 verkaufte Sande die Immobilie für eine einmalige Einnahme an einen Privatmann, der Nutzungen als Ferienhaus und Ausstellungen von Eisenbahn-Spielzeug anstrebte. Forderungen nach Rückkauf und angemessener Verwendung wurden danach immer wieder öffentlich erhoben. 2015 schließlich konnte der Zweckverband Schloss- und Heimatmuseum Jever das Erdgeschoss, über dem sich eine Ferienwohnung befindet, von den Eigentümern für eine Probezeit anmieten. 2016 wurde der Mietvertrag für drei Jahre verlängert. Gezeigt wird hier gegenwärtig eine Ausstellung über die ehemalige Synagoge selbst und die Juden von Neustadtgödens. Sie integriert Teile der Ausstellung „Jüdische Nachbarn“, die zuvor im Neustadtgödenser Museum „Landrichterhaus“ gezeigt worden war. Die ehemalige Synagoge kann auf Voranmeldung und in Begleitung von Gästeführern besichtigt werden. Sie ist Bestandteil des Projekts „Erinnerungsorte im Landkreis Friesland“. Über diese Erinnerungsorte informiert das Internetportal www.erinnerungsorte-friesland.de
Auf Einzelquellennachweise im Text wurde weitgehend verzichtet. Ich danke Herrn Michael Clemens und Herrn Stephan Horschitz für zahlreiche Informationen und sachnotwendige Korrekturen. H. Peters 07/2015
Literatur
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- Hammer-Schenk, Harold: Synagogen in Deutschland: Geschichte einer Baugattung im 19. und 20. Jahrhundert.- Hamburg 1981
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- Hegenscheid, Enno; Knöfel, Achim: Die Juden in Neustadtgödens: Das Entstehen der Synagogengemeinde, ihr Leben und Wirken, der Aufstieg und Untergang.- Neustadtgödens 1988 (Am Schwarzen Brack Nr. 5)
- dies.: Die Synagoge Neustadtgödens (Gemeinde Sande).- In: Die Synagogen des Oldenburger Landes.- Oldenburg 1988, S. 122 – 141
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- Lüpke-Müller, Inge: Der Landkreis Wittmund zwischen Monarchie und Diktatur: Politische Strukturen und Wahlergebnisse von 1918 bis 1933.- In: Ostfriesland zwischen Republik und Diktatur.- Aurich 1998, S. 11 – 84
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- Noakes, Jeremy: The Nazi Party in Lower Saxony 1921 – 1933.- Oxford: University Press, 1971
- Peters, Hartmut: Von der Revolte zur Restauration: Jever zwischen der Novemberrevolution 1918 und dem Beginn der Bundesrepublik 1949/51.- In: Ein Blick zurück.- Jever 1986, S. 90 – 138
- Rademacher, Michael: Wer war wer im Gau Weser-Ems: Die Amtsträger der NSDAP.- Norderstedt 2005
- ders.: Die Kreisleiter der NSDAP im Gau Weser-Ems.- Tectum 2005
- Schaer, Friedrich-Wilhelm: Der Gödenser Pogrom am 5. Mai 1782.- In: Ostfriesland: Zeitschrift für Kultur, Wirtschaft und Verkehr.- Leer 1974, H. 3, S. 19 – 23
- Taube, Robert de: Mein Erlebnis während der Hitlerzeit von 1932 – 1945 von der Vertreibung als Pächter meines Vaters Samuel de Taube (Gutsbesitzer des Gutes Horster Grashaus bei Wilhelmshaven) bis zur Wiedererlangung und Kampf um das Gut Horster Grashaus.- masch., 37 S., 1977
- „Urteil in der Strafsache gegen die wegen des Pogroms vom November 1938 in Neustadtgödens und Umgebung Angeklagten“ [Eigentitel, H.P.] des Landgerichts Aurich v. 6. Okt. 1949 [Dem Autor lag der Teil „B. Allgemeine Feststellungen“, S. 18 – 35, mit geschwärzten Namen der Angeklagten vor.]
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- www.bundesarchiv.de/gedenkbuch
- www.yadvashem.org
- Archive: M. Clemens, Neustadtgödens; H. Peters, Wilhelmshaven; Stiftung Jüdisches Museum Berlin, Sammlung Robert de Taube