Varel: Das Schicksal der jüdischen Familie Visser: Nur die Tochter Ruth überlebte den Holocaust

Inhaltsverzeichnis

  1. Verfolgung ab 1933
  2. Tochter Ruth emigrierte 1939 nach Skandinavien
  3. Vertreibung der Familie 1940 aus Varel nach Berlin
  4. Deportation und Ermordung in Auschwitz 1943
  5. Nach dem Ende der NS-Herrschaft

 

Eduard Visser wurde am 15. Januar 1879 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns im ostfriesischen Leer geboren. Seine Ehefrau Käthe, geboren am 24. Dezember 1896, stanmte aus der alteingesessenen jüdischen Familie Rose aus Dornum, ebenfalls in Ostfriesland. Ihre Eltern betrieben dort einen Viehhandel und eine Schlachterei.

Eduard Visser kam bereits als Jugendlicher zu Ostern 1892 von Leer nach Varel. Er lebte zunächst im Haus von Gustav Schwabe-Barlewin in der Haferkampstrasse 10 und absolvierte in dessen über die Grenzen der Stadt Varel hinaus bekannten Kaufhaus Schwabe eine Ausbildung als Verkäufer.

Im Ersten Weltkrieg war Eduard Visser als einfacher Landsturmmann in einem Oldenburgischen Infanterie-Regiment an der West- und Ostfront eingesetzt und erhielt das Eiserne Kreuz. Im Dezember 1918 kehrte er aus dem Militärdienst nach Varel zurück und arbeitete wieder als Angestellter bei Schwabes. Im April 1920 konnte er ein Haus in der Oldenburgerstr. 39 erwerben. Kurz darauf heiratete er seine Verlobte Käthe Rose und am 15. Februar 1921 wurde die erste Tocher Ruth geboren. Da die Entbindung in Oldenburg stattfand, ist in ihrer Geburtsturkunde als Geburtsort Oldenburg eingetragen.

Herr Visser machte sich Ende 1921 als Kaufmann beruflich selbstständig. Gemeinsam mit seinem Schwager Sally Rose aus der Elisabethstrasse, der zunächst als Mitarbeiter und zuletzt als Mitinhaber beteiligt war, betrieb er einen Textilgroßhandel in der Neumühlenstrasse 12. Im November 1923 wurde in Varel die zweite Tochter Ingeborg geboren.

Die Visser-Töchter Ingeborg (li.) und Ruth (2.v.re.) mit Spielkameraden, Ende 1920er Jahre in Varel. Sammlung Holger Frerichs.

1) Verfolgung ab 1933

Mit Beginn der NS-Herrschaft begann 1933 für die Vissers die Zeit des Leidens. Boykottaktionen Vareler Nazis gegen das Geschäft, antisemitische Demütigungen und Diskriminierungen der Mitglieder der kleinen jüdischen Gemeinde waren wie allerorten in Deutschland auch in Varel an der Tagesordnung. In der Pogromnacht vom 9./10. November 1938 wurde Eduard Visser von Vareler SA-Greiftrupps in das Polizeigefängnis in Varel, tags darauf von der Gestapo über Oldenburg in das KZ Oranienburg (Sachsenhausen) bei Berlin verschleppt. Er trug die Häftlingsnummer 10162 und war wie die übrigen verschleppten Vareler Juden im Block 42 untergebracht. Am 29. November 1938 entließ ihn die Gestapo. Auch nach dieser Gewalterfahrung wollte oder konnte Eduard Visser nicht dem Beispiel vieler Verwandte und Freunde folgen, mit seiner Familie ins Ausland zu entfliehen. Anfang 1939 erließ die Hitler-Regierung Bestimmungen, wonach das Geschäft von Visser und Rose zwangsweise geschlossen wurde. Ein Jahr später musste er unter dem Druck der Verhältnisse auch sein Haus Oldenburgerstr. an den Buchhändler Johannes Friedrich verkaufen. „Sicherungsanordnungen“ des Finanzamtes über das verbliebene Vermögen kamen hinzu.

Eduard Visser mit Tochter Ruth (li.), Ehefrau Käthe (re.) und Tochter Ingeborg. 1930er Jahre im Garten der Oldenburger Straße 39 in Varel. Sammlung Holger Frerichs.

Neumühlenstraße 12. Hier existierte bis 1939 der Textilgroßhandel Visser/Rose. Foto Frerichs.

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2) Tochter Ruth emigrierte 1939 nach Skandinavien

Die ältere Tochter Ruth blieb das einzige Familienmitglied der vierköpfigen Familie Visser, welches rechtzeitig Konsequenzen aus der Situation in Deutschland zog und damit überlebte. Sie emigrierte Anfang Juli 1939 nach Dänemark, um in einem von der zionistischen Bewegung getragenen Vorbereitungscamp eine landwirtschaftliche Ausbildung zu absolvieren.

Ruth gehörte der „Hechaluz“ an, einer zionistisch-sozialistischen Jugendorganisation an, die für viele Jugendliche die Emigration bzw. Flucht aus dem deutschen Machtbereich organisierte. Die „Hechaluz“ verfolgte das Ziel, junge Jüdinnen und Juden auf die Einreise nach Palästina und den dortigen Aufbau eines jüdischen Gemeinwesens vorzubereiten. Sie betrieb dazu spezielle Ausbildungszentren (Hachscharot), in denen möglichst viele praktische Kenntnisse und Fähigkeiten z.B. im Bereich Landwirtschaft und Gartenbau vermittelt werden sollten.

Ruth Visser erhielt zunächst für ein halbes Jahr in Dänemark eine Aufenthaltsgenehmigung. Kurz nach ihrer Ankunft in Dänemark begann jedoch der Zweite Weltkrieg und Ruth blieb in Dänemark, wo sie eine gewisse Zeit ohne Lohn als landwirtschaftliche Hilfskraft arbeitete.

1939 oder 1940 heiratete sie in Dänemark den aus Bamberg stammenden Fred Forchheimer, einen jungen Mann, der sich in der gleichen Situation wie Ruth befand. Im Herbst 1943, nachdem die deutschen Besatzer in Dänemark auch dort die „Judenpolitik“ verschärften und die Verhaftung aller jüdischen Bürger geplant war, floh sie mit Hilfe aus der dänischen Bevölkerung weiter nach Schweden. Das Paar trennte sich. Ihr Mann Fred tauchte unter und war Mitglied der dänischen Widerstandsbewegung, später floh auch er nach Schweden.

In Schweden heiratete Ruth erneut und führt seither den Namen Wächter. Sie studierte in ihrer neuen Heimat Sozialarbeit, arbeitete in der Kinderbetreuung und in leitender Funktion in der Sozialverwaltung in Stockholm. Ruth Wächter hatte seit 1950 einen großen Einfluss auf die schwedische Sozialforschung, nach ihrer Pensionierung war sie Präsident einer schwedischen Forschungsgesellschaft für Sozialarbeit. Im Jahre 2005 erhielt sie, nun schon 84 Jahre alt, die Ehrendokorwürde der Universität Lund.

Bereits im Januar 1998 zeichnete das Shoah Foundation Institute Visual History Archive ein dreistündiges „Oral History“-Interview (in Schwedisch) mit ihr auf.

Ruth Wächter verstarb am 24. Februar 2020, eine Woche nach ihrem 99. Geburtstag, in einem Altenheim in Stockholm.

Ihre Eltern und ihre Schwester, die in Deutschland geblieben waren, sah sie nach ihrer Ausreise nach Dänemark nie wieder.

Ruth Wächter, geborene Visser. Sie verstarb 2020 in Stockholm in einem Altenheim. Fotos 1943 sowie um 2000. Sammlung Holger Frerichs.

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3) Vertreibung der Familie 1940 aus Varel nach Berlin

Eduard und Käthe Visser sowie die bei ihnen in Varel verbliebene Tochter Ingeborg wurden im März 1940 von der Geheimen Staatspolizeistelle Wilhelmshaven zum Umzug nach Berlin gezwungen. Das Weser-Ems-Gebiet sollte auf Anordnung der Gestapo „judenfrei“ gemacht werden. Betroffen waren alle jüdischen Bürger in Ostfriesland und im Land Oldenburg, mit Ausnahme der Bewohner der jüdischen Altenheime in Emden und Varel, die dann 1941 und 1942 in Ghettos und Vernichtungslager deportiert wurden.

Die Familie Visser wohnte in der Reichshauptstadt zunächst in einer sogenannten „Judenwohnung“ im Bezirk Schöneberg, zuletzt in Charlottenburg.

Käthe Visser musste wie alle in Berlin lebenden Juden Zwangsarbeit in einem Rüstungsbetrieb verrichten. Auch ihr Ehemann blieb davon nicht verschont, obwohl er gesundheitlich dazu nicht mehr in der Lage war. Er starb am 1. Januar 1941 und wurde auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee beerdigt. Tochter Ingeborg, ebenfalls zur Zwangsarbeit verpflichtet, heiratete noch am 4. Oktober 1941. Mit ihrem Mann David Friedmann hatte sie einen Sohn Denny, geboren am 9. September 1942.

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4) Deportation und Ermordung in Auschwitz 1943

Am 12. Januar 1943 deportierte die Berliner Staatspolizeistelle Käthe Visser zusammen mit knapp 1200 weiteren Juden aus Berlin mit dem „26. Osttransport“ vom Moabiter Güterbahnhof in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Nach der Ankunft selektierte die SS knapp 900 „nicht arbeitsfähige“ Personen aus diesem Transport für die Gaskammern, darunter war auch Käthe Visser. Ihr in Berlin verbliebenes Barvermögen und Einrichtungsgegenstände wurden vom deutschen Staat eingezogen.

Knapp einen Monat später mussten auch Tochter Ingeborg mit Ehemann und Sohn den gleichen grausamen Weg gehen: Sie wurden am 3. Februar 1943 nach Auschwitz-Birkenau deportiert, dieser Transport mit knapp 1000 Opfern wurde von der Berliner Staatspolizeistelle als „28. Osttransport“ vermerkt. Nach der Ankunft in Auschwitz wurden von der SS aus dem Transport 700 jüdische Männer, Frauen und Kinder für die Gaskammern selektiert, darunter waren auch Ingeborg und David und der fünf Monate alte Sohn.

Auschnitt aus Deportationsliste der Gestapo für den „28. Osttransport“ von Berlin nach Auschwitz, Februar 1943. Ingeborg mit Familie unter Nr. 389-391. Sammlung Holger Frerichs.

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5) Nach dem Ende der NS-Herrschaft

1951 erhielt Ruth Wächter für das vom Vater 1940 unter Zwang verkaufte Grundstück in der Bahnhofstr. vom neuen Eigentümer eine Ausgleichszahlung. Weitere Entschädigungsansprüche, wie z.B. für das vom NS-Staat nach der Deportation ihrer Mutter in Berlin geraubte Eigentum, lehnten die zuständigen deutschen Gerichte ab.

In die Stadt Varel, wo sie ihre Kindheit und Jugendjahre verbracht hatte, kehrte Ruth Wächter, geborene Visser, nie wieder zurück. Im Zusammenhang mit dem 1981 begangenen 125jährigen Stadtjubiläum Varels schrieb sie in einem Brief an Pastor Rudolf Brahms, der viele Jahre die Geschichte der Vareler Juden erforscht hat: „Varel und das Leben dort liegen heute so weit zurück und sind mit so eigentümlichen und schmerzhaften Erinnerungen verknüpft, dass ich es beinahe vergessen habe. Dass Varel sich bei seinem Jubiläum nicht an seine Juden erinnerte, überrascht mich nicht.“ Erst später gelang es dank der Iniative von engagierten Privatpersonen, Schülern und Gewerkschaftern, auch in Varel das jahrzehntelange Verdrängen und Verschweigen der NS-Verbrechen zu beenden. In der Stadt wird heute in vielfältiger Weise an die NS-Herrschaft und die Opfer aus der von den Nazis vernichteten jüdischen Gemeinde erinnert.

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Auf Einzelnachweise im Text wurde verzichtet, Quellenhinweise beim Verfasser.

Copyright: Holger Frerichs, Forschungsstand 31.03.2020.