Das Kriegsende in Jever 1945 und der Massenprotest gegen die Verteidigung der Stadt

von Hartmut Peters

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung
  2. Die Vorbereitungen zum „Endkampf“
  3. Der Volksauflauf vom 3. Mai 1945: Rahmenbedingungen
  4. Der Volksauflauf vom 3. Mai 1945: Ablauf
  5. Die weiße Fahne, die Verhaftungen und die Gefahren
  6. Die Soziologie der Hauptakteure
  7. Wertung der Vorkommnisse des 3. Mai 1945
  8. Die Befreiung von Jever durch die polnische Panzerarmee – 4. bis 20. Mai 1945

1. Einleitung

Vor 70 Jahren entschied sich, dass Jever nicht noch in der letzten Phase des 2. Weltkriegs Schauplatz eines blutigen Endkampfs werden würde: Die Regierung Dönitz kapitulierte vor Feldmarschall Bernhard Montgomery auf der Nordwestfront. Das war heute am 4. Mai vor 70 Jahren, fast auf die Minute genau. Der Waffenstillstand trat am nächsten Morgen, 8 Uhr, in Kraft. Der 5. Mai 1945 war in Jever das Ende der Kampfhandlungen. Am 6. Mai war Besetzung.
Den Schwerpunkt des Vortrags lege ich auf den Volksauflauf vom 3. Mai zur Herausnahme der Stadt aus dem Verteidigungsring um Wilhelmshaven , der von manchen zum einem Mythos aufgeblasen wird. Und auf die Befreier, die Soldaten der 1. Polnischen Panzerdivision, die bis heute unsere politischen Institutionen und die Zivilgesellschaft nicht anständig gewürdigt haben.
Damit habe ich schon gesagt, was ich nur jetzt ansprechen kann.

  • Wer die Befreiung vom Nationalsozialismus vom Aufstieg der offen auf Revanche für den Ersten Weltkrieg angetretenen Hitler-Partei trennt, sieht nur Katastrophen und Tote, aber keine Täter, Opfer und Ursachen. Die Vorgeschichte des Kriegs ist Kriegsgeschichte – und sie begann in Jever schon 1923, ein Jahrzehnt vor der Machtübertragung an die Nationalsozialisten 1933.
  • Wer verschweigt, dass der Landkreis Friesland überdurchschnittlich von den Kriegsvorbereitungen, der flächendeckenden Militarisierung im Schatten der Rüstungsschmiede und größten Baustelle des Reichs – Wilhelmshaven – profitiert hat, verharmlost die nur zu bereitwillige Mitarbeit am Projekt Revanchekrieg.

Mit dem Thema habe ich mich in den Jahren 1984 bis 2005 und jetzt wieder für einige Wochen zur Einarbeitung neuer Quellen beschäftigt. Das meiste ist bisher unveröffentlicht.

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2. Die Vorbereitungen zum „Endkampf“

Am 6. Juni 1944 landeten die West-Alliierten in der Normandie, und fast gleichzeitig brach die Rote Armee den deutschen Widerstand an der Ostfront. Jever wurde später vom Nationalsozialismus befreit als fast alle anderen Gegenden Deutschlands. Der Nordwesten und zuletzt bald allein das nördliche Ostfriesland mit Friesland, Wilhelmshaven und Butjadingen glichen schließlich Ende April 1945 einer „Endsiegsinsel“. Die Engländer waren zu diesem Zeitpunkt über Hannover schon bis Hamburg durchgestoßen, während sich kanadische und polnische Einheiten, ohne großen Widerstand vorzufinden, zügig aus Südwesten näherten.

Im Widerspruch zur aussichtslosen Lage standen die offiziellen Durchhalteparolen, die fanatisch „Endsieg oder Untergang“ propagierten. Die Funktionäre der Partei riefen unter dem Motto „Leewer dood als Sklav!“ am 29. März zum Kampf der letzten bis zum Letzten auf. Am 9. April hängte man überall rote Plakate „Und wir siegen doch!“ aus. Eine Auswahl der Schlagzeilen des seit 1924 nazitreuen „Jeverschen Wochenblattes“ zwischen dem 25. April und dem 3. Mai: „Kampf bis zum Sieg!“, „Die Lage ist nicht aussichtslos“, „Erbitterter deutscher Widerstand“, „Heldischer Kampf gegen Massenansturm“, „Der deutsche Soldat erfüllt seine Pflicht als selbstverständlichen Ausdruck seiner Ehre“. Den als „Heldentod“ ausgegebenen Selbstmord Hitlers kommentierte die Ortszeitung am 3. Mai 1945 folgendermaßen: “ Wenn wir standhaft bleiben und mit glühendem Herzen sein Vermächtnis pflegen, wird seine Saat eines Tages hundertfältig aufgehen, und wir können sagen: Adolf Hitler lebt.“

Schon seit August 1944 wurden die Küstenbefestigungen verstärkt. Der sogenannte „Friesenwall“ entstand, der aber nie richtig fertiggestellt wurde. Da man eine Landung der Alliierten auch in der Deutschen Bucht befürchtete, umfasste die erste Stellung die unmittelbare Küste mit den vorgelagerten Inseln, die zweite sollte am Jade-Ems-Kanal verlaufen. Emden, Aurich und Wilhelmshaven wurden zur „Festung“ erklärt, d.h. zur Rundumverteidigung vorgesehen. Jever gehörte zum Gürtel um die „Festung Wilhelmshaven“.

Vorkehrungen für den „Endkampf“ liefen auch im Jeverland. Bereits Ostern 1944 legten Hitler-Jungen an den Straßen MG-Nester an. Seit Oktober 1944 übte regelmäßig der Volkssturm der 16 bis 60jährigen, miserabel ausgerüstet, ohne genügend Waffen und Munition. In Jever gab es drei Kompanien, deren Einzugsgebiet sich an den drei Ortsgruppen der NSDAP orientierte.

Carl Woebcken berichtet: „Im April 1945 fing man an, Panzersperren anzulegen. Beim schönsten Frühlingswetter wurden die wenigen Arbeitskräfte auch noch von der Landarbeit abgehalten und mussten mit den Gefangenen aus aller Welt Gräben ausheben, Baumstämme beschaffen und Barrikaden anlegen. Bei den Ausländern kam das geflügelte Wort „Bisschen viel verrückt!“ auf.“ Die Barrikaden Jevers – größere an den Stadteingängen, kleinere innen – kamen aus dem upjeverschen Forst. An der Jeverschen Straße Richtung Heidmühle mussten Holländer, die auf dem deutschen Rückzug verschleppt worden waren, Panzergräben anlegen. Im Hügel des Schlossgartens wurde ein Stollen eingebaut, der als Befehlsstand dienen sollte. Hitlers Befehl, dem Feind nur „verbrannte Erde“ zu hinterlassen, wirkte sich insofern aus, als die Ortsbauernführer Anweisung erhielten, bei Feindannäherung das Vieh zu vergiften und die Höfe in Brand zu stecken. Bäcker sollten ihre Backöfen, Schlachter ihre Maschinen sprengen. Das Wasser der Tiefs wurde aufgestaut, damit auf ein Codewort hin das Land unter Wasser gesetzt werden konnte. Glücklicherweise kam es nicht soweit.

„Was man von der Panzerfaust wissen muss“ , Jeversches Wochenblatt, 24.2.1945
„Was man von der Panzerfaust wissen muss“ , Jeversches Wochenblatt, 24.2.1945

Die Wangerooger Katastrophe vom 25. April 1945 mit über 320 Toten nach dem Bombenangriff auf die Geschützbatterien der Insel sprach sich schnell herum. Auch die für beide Seiten und die Zivilbevölkerung verlustreiche Überwindung der sog. „Seelöwenstellung“ am Küstenkanal und die Zerstörung von Edewecht am 27. April mit allein ca. 800 Toten und 50% Gebäudeverlust im Straßenkampf blieb nicht verborgen. Der Kampf um Leer vom 28. auf den 29. April tötete ca. 400 Menschen und zerstörte 210 Häuser.

Mit einem vernichtenden Angriff auf Jever und die Festung Wilhelmshaven, musste unbedingt gerechnet werden. Die Todesanzeigen für die Gefallenen waren nicht nur aus Papierknappheit immer kleiner geworden. In ihnen kamen Ausdrücke wie „Heldentod“ oder „für Führer, Volk und Vaterland“ jetzt seltener vor. Der Gefechtslärm der Front drang nach Jever vor. „Der Krieg ging seinem Ende entgegen. Das wusste jeder, merkte auch der Dümmste“, charakterisierte Pastor Schröder die Situation im April 1945 in Jever. Allenthalben setzten sich die Zwangsarbeiter Richtung Heimat ab, was mit regelrechten Auffangsperren abgewehrt werden sollte. Etliche Deserteure versteckten sich vor den Ortspolizisten und den Feldjägern – deutliche Anzeichen der beginnenden Auflösung. Schon seit Januar befanden sich Flüchtlinge aus Ostpreußen in Jever – beredte Zeugen des Niedergangs des Großdeutschen Reichs und der befürchteten Schrecken.

Helmut Popken, 1945 Oberleutnant der Stadtkompanie (Foto von 1995, H. Peters)
Helmut Popken, 1945 Oberleutnant der Stadtkompanie (Foto von 1995, H. Peters)

Am 27. April rückten die Kompanien des Bataillons Bremer in den äußeren Verteidigungsring von Wilhelmshaven ein, und zwar in den Raum um Jever. Diese Einheit war erst kurz zuvor in Wilhelmshaven aus Marinesoldaten ohne Schiff und aus sonstigen Marinern zusammengestellt worden. Der Ausbildungsstand bezüglich der zu bekämpfenden Panzer war miserabel. Korvettenkapitän Bremer richtete seinen Bataillonsgefechtsstand im jeverschen Amtsgericht ein, während knapp 200 Mann als Wachkompanie für den Standort Quartier in der Stadtknabenschule am Schlosserplatz bezogen. Helmut Popken, damals als Oberleutnant Anführer der Wachkompanie, erinnert sich: „Was zunächst passierte, war der Selbstmord Hitlers. Ich hatte im Lehrerzimmer der Schule, meinem Quartier, einen alten Volksempfänger stehen, über den ich die Nachricht erhielt, die ich dann sogleich an die Soldaten weitergab. Kaum Trauer, aber eine spürbare Erleichterung war in den Gesichtern der Männer zu erkennen.“

Großadmiral Dönitz war jetzt Chef der Reichsregierung. Sein Ziel war es, die Gesamtkapitulation an allen Fronten durch partikulare Waffenstillstände mit Engländern und Amerikanern zu ersetzen. Hiermit sollte die Kapitulation der Ostfront hinausgezögert werden, um die Soldaten und die fliehende Bevölkerung möglichst weit nach Westen auf das schon bestehende britische Gebiet zurücknehmen zu können. Die Leitung des Gaus Weser-Ems unter Georg Joel hatte sich am 30. April von Oldenburg in die „Festung“ Wilhelmshaven abgesetzt. Hier befand sich seit Februar ebenfalls die Seekriegsleitung. Diese Führung hatte nur noch Wasser im Rücken und wusste dies auch, tat aber zunächst nichts gegen den Anschein, den verängstigten Menschen auch noch die letzten Opfer abzwingen zu wollen. Inzwischen kursierten Gerüchte über „Verhandlungen“, die Dönitz auch tatsächlich seit dem 1./2. Mai mit dem britischen Oberfehlhaber Montgomery führen ließ.

Am 2. Mai, keine drei Tage vor dem Waffenstillstand, fand im Lichtspielhaus eine letzte, gespenstische Veranstaltung der NSDAP statt. Am Abend versammelten sich die Parteigenossen und Amtswalter der Marienstadt zu einer „ernsten Stunde des Abschieds und Gedenkens“ für Adolf Hitler. Das „Jeversche Wochenblatt“ zitierte ausführlich Kreisleiter Flügel. Er räumte in seiner Rede nur wenig verblümt die Niederlage und zukünftige Zerteilung Deutschlands ein und beklagte larmoyant das besondere Schicksal der gläubigen NS-Funktionäre: „Das Schwerste stet uns vielleicht noch bevor … Noch wissen wir nicht, was des Führers Pläne und Vorbereitungen nicht zur Ausführung kommen ließ, doch müssen wir in seinem Geiste das Schicksal zu meistern suchen, den Mut nicht verlieren, dann wird Adolf Hitler mit uns weiter leben.“ Der Bericht über die jeversche Götterdämmerung endete: „Mit den Nationalliedern ging die auf schweren Ernst gestimmte, sich ihres Schicksals bewusste Gemeinschaft auseinander.“

„Unser Führer gefallen“, Jeversches Wochenblatt, 2.5.1945
„Unser Führer gefallen“, Jeversches Wochenblatt, 2.5.1945

Die fanatischsten Nationalsozialisten sammelten sich in Freicorps, die hinter der Front als Partisanen operieren und vorab „Verräter“ und „Defätisten“ aus den eigenen Reihen femeartig „hinrichten“ wollten. In der Nacht zum 3. Mai erschoss der „Gauwehrwolfführer“ Friedrich Wilhelm Lotto in Wilhelmshaven, drei „politisch Unzuverlässige“. Höhere NS-Funktionäre sahen sich nun in gewissen Schwierigkeiten, wenn sie ihre Verantwortung für das Leben nach der Niederlage entdeckten oder einen besseren Start in die bevorstehende Internierung nehmen wollten.

Auch Jever hatte seine Fanatiker, die lautstark ihre Stunde der „Treue“ und „Ehre“ verkündeten, aber sich letztlich dann doch verkrochen. Überall begann man, Parteipapiere und belastende Akten ins Feuer zu werfen. Die Menschen hängten die Hitler-Bilder ab, gruben ganze Bibliotheken brauner Bücher ein und versenkten ihre NS-Abzeichen in den Tiefs und Graften.

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3. Der Volksauflauf vom 3. Mai 1945: Rahmenbedingungen

Am Morgen des 3. Mai 1945, einem Donnerstag, besetzten die Alliierten kampflos Oldenburg und gewannen schnell Raum Richtung Rastede. Auf der westlichen Kampflinie überschritten sie Bagband und erreichten bald Wiesmoor. Um 13 Uhr beschossen Jagdbomber im Tiefangriff Varel. Es war der vorletzte Tag vor dem Waffenstillstand an der britischen Front. Am 2. Mai hatte die Reichshauptstadt Berlin kapituliert.

„Verteidigung“ oder „offene Stadt“ hieß auch in Friesland schon seit Tagen das Thema, das die Gemüter erhitzte und das die Verantwortlichen um so schärfer erörterten, je näher die Front rückte. Seit Hitlers Tod jedoch ließen die Anhänger des Kampfes den Verfechtern der Übergabe mehr Spielraum. Inzwischen war auch der Volkssturm aufgeboten, doch die meisten dieser sehr schlecht bewaffneten Männer vertraten den Standpunkt, dass eine Verteidigung sinnlos sei. Gerüchte lösten einander ab, und es war kaum zu unterscheiden, was richtig oder falsch war. Die einen wollten von Verhandlungen, die anderen von Verteidigung wissen. Am Morgen des 3. Mai wurde in Jever über den Sender Hamburg bekannt, dass jetzt Hamburg offene Stadt sei, also diese wichtigste noch unbesetzte Großstadt nicht als Festung verteidigt werde, und der britische Stadtkommandant bereits ein Ausgehverbot erlassen habe. Am Nachmittag schien eine Meldung des Senders Wilhelmshaven die Unterhandlungen der Regierung Dönitz zu bestätigen. Alles das war dazu angetan, die Ungewissheit über das weitere eigene Schicksal in der Bevölkerung zu steigern. Man war über verschiedene Quellen über das Näherrücken der Fronten informiert und konnte seit Tagen die Geschütze selbst hören. Das Kriegende war eine Frage von ein, zwei Tagen.

Dr. Christel Matthias Schröder galt als einer der „Rädelsführer“ des Volksauflaufs vom 3. Mai 1945 (Foto von 1995, H. Peters)
Dr. Christel Matthias Schröder galt als einer der „Rädelsführer“ des Volksauflaufs vom 3. Mai 1945 (Foto von 1995, H. Peters)

Diese widersprüchliche Situation, ihr ganzer Irrsinn und ein befürchtetes, noch größeres Leid trieben am Spätnachmittag des 3. Mai ungefähr 2.000 Menschen auf den größten Platz in Jever, den Alten Markt. Dr. Christel Matthias Schröder, zwischen 1926 und 1951 evangelischer Pastor in Jever: „Seit dem frühen Morgen lief die Parole ‚Heute um 7 Uhr abends alle auf dem Marktplatz!“ wie ein Lauffeuer von Mund zu Mund. Ich weiß nicht mehr, von wem ich sie gehört habe; meine Frau erfuhr es beim Einkaufen. Die bevorstehende Versammlung lag den ganzen Tag über in der Luft. Die Menschen kamen alle ziemlich zur gleichen Zeit, bis der Platz schließlich schwarz war.“ Zwei weitere Augenzeugen: „Ich kann mich noch gut an die Aufregung dieses Tages erinnern. Es brabbelte, wo man hinkam.“ „Jeder traf jeden. Es herrschte eine Erregung, die können Sie sich gar nicht vorstellen“.

Den Volkssauflauf trieb vor allem das Gerücht und die Angst an, die Royal Air Force plane einen vernichtenden Angriff auf Jever, weil durch die Panzersperren im ganzen Stadtgebiet eine Verteidigung erfolgen sollte, es sei denn, Jever kapituliere. Jedem einsichtigen Menschen musste klar sein, dass ein Luftangriff mit allen Mitteln zu verhindern war. Die Zerstörung der Insel Wangerooge, gerade eine Woche her, stand vor Augen.

In Oldenburg waren Ende April Flugblätter abgeworfen worden. „Bürger von Oldenburg!“, hieß es: „Der Zweite Weltkrieg geht mit Riesenschritten seinem Ende entgegen. […] Während 5 Jahren dieses von Deutschland verschuldeten Krieges ist Eure Stadt von der Verwüstung schwerster Luftangriffe verschont geblieben. Eure Stunde schlägt! Ein gewaltiges Heer steht vor den Toren der Stadt. Luftgeschwader erwarten den Befehl zum Angriff. (…) Es kommt auf Euch an! Wenn Oldenburg Widerstand leistet, werden Eure Häuser dem Erdboden gleichgemacht. (…) Ihr habt die Wahl.“

Es ist wahrscheinlich, dass für den Abend eine offizielle Versammlung der Funktionäre angesetzt war, auf der zum „Durchhalten“ aufgerufen werden sollte. Eine solche „Stärkung des Wehrwillens“ hätten dann die Massen schlichtweg umfunktioniert, egal, ob sie von der Veranstaltung wussten oder nicht. Nach Erinnerung seiner Tochter hörte der Viehaufkäufer Adolf Tammen morgens von Offizieren in Wilhelmshaven, dass Jever nicht zur „offenen Stadt“ erklärt werden solle, der Kampf also bevorstände. Für den Abend sei für die Parteiangehörigen und den Volkssturm eine diesbezügliche Versammlung anberaumt worden. Tammens Tochter: „Eine Bestimmung Jevers zum Schlachtfeld war – der Feind stand bei Dose! – der reine Wahnsinn. Mein Vater fuhr empört nach Jever zurück und propagierte, dass alle abends kommen sollten, nicht nur die Unentwegten. Den ganzen Tag hatte er damit zu tun. Er fuhr mit seinem Auto herum, sprach Freunde, Bauern und alle an, die Rang und Namen hatten.“ Tammen wird nicht der einzige gewesen sein, der systematisch mit Mundpropaganda für die Versammlung warb.

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4. Der Volksauflauf vom 3. Mai 1945: Ablauf

Hans Flügel, Kreisleiter der NSDAP Friesland (Foto von ca. 1942, Archiv H. Peters)
Hans Flügel, Kreisleiter der NSDAP Friesland (Foto von ca. 1942, Archiv H. Peters)

Es ist schwer, nach so vielen Jahren ein exaktes Bild von Ablauf eines Volksauflaufs zu zeichnen. Fünf schriftliche Hauptquellen, insgesamt 19 Augenzeugenberichte sowie einige Berichte vom Hörensagen wurden miteinander verglichen. Glücklicherweise konnte der Autor mit Pastor Schröder, Hans Flügel, Hans Köhler, Helmut Popken und Walter Hansen noch fünf der Hauptbeteiligten selbst befragen. Auf der höheren Seite des Marktplatzes stand ein Rednerpodium. Es wurde aber wohl auch von Stühlen und von den Eingangsstufen der Gastwirtschaft „Zum Erbgroßherzog“ gesprochen. Manche Dinge liefen simultan ab.

Ungefähr so wird es sich abgespielt haben: Amtshauptmann Hermann Ott, die höchste staatliche Autorität am Ort, versuchte, durch den Druck der Menge dazu veranlasst, die Versammlung zu leiten und zu eröffnen. Er wollte so dem Protest die Spitze brechen und beschwichtigend einwirken. Ott: „Habt doch Vertrauen!“ „Nein, wir haben kein Vertrauen“, scholl es zurück, „wir wollen nicht mehr.“ Ott wurde vom Podium herunter gezerrt – er soll kreidebleich gewesen sein – und irgendwie der Eisenwarenhändler Emil Brader darauf gehievt. „Wollen wir uns verteidigen oder uns ergeben?“ fragte er. „Ergeben!“ rief die Menge. Außer Brader sollen Johann Lünemann, Johann Warner, Jan Albers, Apotheker Hans Busch, Pastor Schröder und auch noch andere sich öffentlich geäußert haben. Sie forderten allesamt die Herausnahme Jevers aus dem Festungsgürtel und die Erklärung zur kampffreien Lazarettstadt.

Nun traf der Chef der NSDAP im Kreis Friesland mit ein paar Mann Begleitung ein. Gauleiter-Stellvertreter Joel in Wilhelmshaven hatte Hans Flügel telefonisch angewiesen, nach Jever zu fahren, um Ruhe zu stiften. Erst drei Tage zuvor hatte Flügel an gleicher Stelle unter dem Motto „Leewer dood als Sklav!“ eine üble Durchhalterede gehalten, die im folgenden Satz gipfelte: „Wir kennen keine Flucht, wir kennen nur den Widerstand und den Kampf.“ Nach dem Tod Hitlers gehörte Flügel aber zu denjenigen, die zunehmend, zumindest für Varel, den Volkssturmeinsatz ablehnten. Seine 30 Mann Kreisleiter-Wache hätte er in Varel gelassen, um die Situation nicht unnötig zu verschärfen. Er behauptet, seine Rede, die zum „Durchhalten“ und zur „Besonnenheit“ aufrief und mit einem „Heil!“ auf die Regierung Dönitz endete, recht ungestört beendet zu haben. Wahrscheinlicher aber ist, dass Flügel – obschon bekannt als sehr lauter Redner – so gut wie gar nicht zu Wort kam und seine Ansprache verkürzen musste. Seine markigen Parolen gingen in Zwischenrufen unter, den sinnlosen Widerstand aufzugeben. Flügel sprach von seinen Leistungen und Verdiensten. „Du hast uns was vorgelogen“ bekam er laut Carl Woebcken zu hören. Es entspann sich eine Rangelei zwischen dem Kreisleiter und seinem Adjutanten Sturzebecher auf der einen und Bürgern auf der anderen Seite, die Flügel aufgebracht in ihre Mitte nahmen. Maßgeblich waren die Gebrüder Adolf und Heinrich Tammen und der Schmied Jan Albers. Der Kreis um den Parteifunktionär wurde enger. Die Situation spitzte sich zu, Lynchstimmung kam auf. Einige brüllten: „Aufhängen! An die Laterne mit dem Goldfasan.“ Flügel drohte mit dem Hinweis auf seine Pistole.

Er versuchte samt Gefolge in die Gaststätte „Schütting“ auf der anderen Seite des Platzes zu entkommen, wurde dort aber abgewiesen, obwohl dies das SA-Sturmlokal war. Ein Augenzeuge schilderte 1984 die Entwaffnung Flügels: „Die beiden Tammens schnappten Flügel und führten ihn durch die Menge, die sofort ein Spalier bildete. Jeder von den beiden hielt einen Oberarm des Goldfasans fest. Plötzlich rief einer aus der Menge: ` Pass op, Addi. Er het en Revolver ´. Tammen darauf: ‚Wol, Revolver het er ook?´, griff in die Tasche und nahm Flügel die Waffe ab. Die eine Hand am Oberarm, die andere den Revolver in den Rücken pressend, führte er den kreidebleichen Flügel ab.“ Hans Köhler, ein alter SA-Mann und Mitbegründer der NSDAP Varels, der den NS-Funktionär nach Jever begleitet hat, bestätigt; „Die aufgereizten Menschen haben ihn geschnappt und ins `Erb´ weggebracht. Flügel stand in der Gefahr, gelyncht zu werden.“ Noch 40 Jahre später war dem einstmals mächtigen Mann seine Entwaffnung peinlich. Die Waffe sei ihm „hinten abhanden gekommen“, scherzte er ungehalten grinsend.

Flügel, jetzt mehr oder weniger in der Hand der Bürger, wurde schließlich davon überzeugt, sich mit einer Bürgerabordnung zur politischen Führung nach Wilhelmshaven zu begeben. Die eindringlichen Gespräche hierfür fanden im „Erb“ statt. Flügel versuchte seine Einwilligung zu der für ihn riskanten Tour von der Rückgabe der Pistole abhängig zu machen. Er bekam sie jedoch nicht wieder. Per Auto fuhren Flügel und sein Adjutant sowie der Rechtsanwalt Friedrich Christians und der Eisenwarenhändler Emil Brader als Vertreter der Volksmenge zum Gauleiter-Stellvertreter Joel nach Wilhelmshaven. Hauptziel der Delegation war die Herausnahme Jevers aus dem Gürtel um die „Festung“ Wilhelmshaven oder die Deklaration zu einer Lazarettstadt, wie es inzwischen offenbar mit Wittmund geschehen war. „Joel knurrte nur etwas, es seien Verhandlungen im Gange, mehr könne man nicht sagen“, erinnert sich Flügel.

Joel rechtfertigte 1981 in einem Brief die Ablehnung der Forderungen der Abordnung folgendermaßen: “ Ich telefonierte von der Festungskommandantur im Beisein von Kapitän z. S. Mulsow mit dem Adjutanten von Großadmiral Dönitz und machte ihm klar, dass doch jeder noch vergossene Blutstropfen zu schade wäre, um das Ende aufzuhalten. Wir hatten doch nur noch Wasser im Rücken. Daraufhin, nach kurzer Rückfrage bei Dönitz, sagte er, dass noch für ein paar Tage der Gegner von Hamburg, Schleswig-Holstein und der Trave ferngehalten werden müsse, um die vielen Trecks aus dem Osten vor den Bolschewisten im nördlichen Raum einschließen zu können. Den Gesichtspunkt habe ich anerkennen müssen und ihn auch vertreten. So z.B. gegenüber dem Rechtsanwalt Christians aus Jever, der mit einer Kommission von Bürgern zu mir kam mit der Forderung, Jever zur offenen Stadt zu proklamieren, also aus dem Festungsgürtel Wilhelmshaven herauszubrechen. Der Krieg sei in ein paar Tagen beendet, habe ich ihnen prophezeit.“

Als die Delegierten um Mitternacht zurückkamen, konnten sie noch zahlreichen Menschen am Markt von ihrem Misserfolg berichten. „Wir hatten schreckliche Angst, dass sie aus der Höhle des Löwen nicht lebendig wiederkehren würden“, erinnert sich die Tochter von Emil Brader an den Abend. Der exponierte Adolf Tammen hatte sich inzwischen versteckt und kam erst wieder bei Kriegsende zum Vorschein. Sein Bruder Heinrich war kurzzeitig verhaftet worden, man tat ihm aber nichts.

Trotz der erregten Szenen scheint es insgesamt eine eher ruhige Versammlung gewesen zu sein: Die Mehrheit der Demonstranten protestierte durch ihre bloße Anwesenheit. Alle horchten auf eventuelle Geräusche von Flugzeugmotoren. Einmal soll kurzfristig eine Panik wegen eines ähnlichen Geräuschs aufgekommen sein. Einige Einwohner schauten sich das Ganze nur aus sicherer Distanz an oder blieben besser zu Hause. Sie hatten Angst oder lehnten den Zweck der Versammlung ab.

Landrat Hermann Ott wollte am 3. Mai 1945 den Protest besänftigen; vor seiner Internierung als NS-Funktionär hatte er noch zwei Wochen der Militärregierung zu dienen (Foto von 1947, Archiv H. Peters)
Landrat Hermann Ott wollte am 3. Mai 1945 den Protest besänftigen; vor seiner Internierung als NS-Funktionär hatte er noch zwei Wochen der Militärregierung zu dienen (Foto von 1947, Archiv H. Peters)

Die Ordnungskräfte hielten sich unerwartet lange zurück. Der Volkssturmführer Hansen will „zum Schutz von Ott“ dabei gewesen sein und auch einige seiner Leute „zur Aufrechterhaltung der Ordnung“ verteilt haben, die aber nicht eingriffen. Auch der sogenannte Selbstschutz, eine Art Hilfspolizei und gleichzeitig Feuerwehr, war auf dem Posten und wollte notfalls die Menge mit Wasser aus dem Schlauch beruhigen. Schließlich jedoch griff die Wachkompanie von etwa 200 Marinesoldaten ein. Ihr Kompaniechef Oberleutnant Popken; „Nach dem Hissen der weißen Flagge auf dem Schlossturm wurde der Bataillonsgefechtstand im Amtsgericht aktiv. Ich erhielt von dort zunächst den Befehl, die Versammlung auf dem Alten Markt zu räumen, `notfalls mit Gewalt‘. Ich gab aber vor dem Ausrücken die Anweisung, auf keinen Fall auch nur mit der Waffe zu drohen. Bei unserem Eilmarsch von der Schule zum Marktplatz erreichte uns die Abschwächung, man solle den Jeveranern nur gut zureden, doch wegen Fliegergefahr den Platz zu räumen.“ Popken behauptet, dass dann auch so vorgegangen worden sei. „Was wollt ihr denn, werft doch eure Waffen weg, Hitler ist doch tot“. So und ähnlich waren nach seiner Erinnerung die Zurufe der aufgebrachten Jeveraner.

Anschließend räumten die Soldaten die Lager des Volkssturms aus und nahmen die Waffen in Verwahrung. Das war eine Vorsichtsmaßnahme, nunmehr war zu befürchten, dass der Volkssturm sich gegen die Marinetruppe stellen würde. Kurz vor Mitternacht des 3. Mai gab es erneut Alarm für die Wachkompanie: Bürger räumten die Panzersperren an den Ausfallstraßen beiseite. Doch als sie anrückte, waren die Täter, die durch ihre Wachen gewarnt worden waren, verschwunden und die Sperren weitgehend unbrauchbar. „Nun, beiden Seiten, den Bürgern wie den Soldaten, war das schon recht so. Wer wollte hier denn noch etwas anderes als den Schuss ohne Schrecken“, erinnert sich Popken.

Am frühen Morgen des 4. Mai erhielten die Soldaten den Befehl, Jever zu verlassen und in Richtung Wittmund auszurücken. Popken sieht den Grund des Befehls in dem Verhalten der Bevölkerung, das eine Verteidigung der Stadt faktisch ausschloss. Diese Kausalität erscheint möglich. Als übergeordneter Grund ist eine Veränderung der Strategie der militärischen Führung, und das heißt die Aufgabe der „Festung Wilhelmshaven“ angesichts des unmittelbar bevorstehenden Waffenstillstands, wahrscheinlicher. Wie dem auch sei, das Abrücken der Soldaten bedeutete die Aufgabe der Verteidigung Jevers und die Erfüllung des Willens der Volksversammlung.

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5. Die weiße Fahne, die Verhaftungen und die Gefahren

Vermutlich in der Zeit des Tumults um Flügel richtete sich das Augenmerk eines Teils der Menschen auf den Schlossturm. Max Rühlmann gab 1968 zu Protokoll: „Am 3.Mai 1945 habe ich zusammen mit Edgar Hinrichs, Hohewarf, und Johann Lünemann, Jever, auf dem Schlossturm in Jever eine weiße Fahne ausgehängt, um zum Ausdruck zu bringen, dass die Stadt sich gegen den herannahenden Feind nicht zur Wehr setzen wolle und um die Stadt von einem feindlichen Bombenangriff zu verschonen. Bei dem Fahnentuch handelte es sich um ein großes Damasttuch, das wir von dem Kaufmann Fritz Kleinsteuber Jr. erhalten hatten. Als wir das weiße Tuch ausgehängt hatten, waren uns bereits Marinesoldaten mit aufgepflanztem Bajonett nachgestiegen. Wir wurden aufgefordert, das Tuch sofort einzuziehen und dafür die Hakenkreuzflagge auszuhängen. Da wir dies ablehnten, wurden wir von den Soldaten abgeführt, und das weiße Tuch wurde eingezogen.“

Da der Schlossturm als Ausguck diente, war diese Entwicklung abzusehen. Nur kurz prangte das Signal am höchsten Punkt weit und breit und alliierte Soldaten sollen später in Jever erzählt haben, dass es bemerkt worden sei. Der Wahrheitsgehalt ist allerdings stark zu bezweifeln. Und wenn man die Fahne bemerkte, sah man auch, dass sie wieder eingezogen wurde.

Popken: „Für den Feldwebel, der mit zwei Soldaten die drei mutigen Jeveraner verhaften musste, die die weiße Flagge gehisst hatten, war es anschließend ein bedrohliches Spießrutenlaufen durch die Menge.“ Ein Augenzeuge berichtet von erregten Rufen „Die Arrestanten heraus! Die Arrestanten heraus!“ Um die Menge zu beruhigen, ließ das Bataillon verlauten, den Flaggenhissern werde nichts weiter geschehen, als dass sie zunächst einmal festgehalten werden müssten.

Fahne und Volksauflauf liefen verzahnt ab. Die Fahnenhisser setzen den Zweck der gesamten Versammlung in Handlung um – deutlich und direkt. Allerdings war ihre Tat damals nicht unumstritten. Manche hielten sie zwar für mutig, aber auch für unüberlegt: Die Fahne habe nicht die Wirklichkeit gezeigt. Die Soldaten hatten nun einmal den Befehl zu kämpfen, der Feind hätte diesen Widerspruch als Falle auffassen und später mit besonderer Härte gegen die Bevölkerung vorgehen können.

Hinter den Kulissen überlegten die Zuständigen, was mit den Flaggenhissern zu geschehen habe, die im Marstallgebäude unter Bewachung gehalten wurden. Nach einem Verhör ließ man sie zunächst mit der eindringlichen Ermahnung, „So etwas zu unterlassen“, frei. Auf Veranlassung des Festungskommandanten von Wilhelmshaven, der eine Erklärung verlangte, wurden die Drei jedoch am selben Abend erneut festgenommen. Angehörige konnten ihnen etwas zu essen bringen. Am Vormittag des 4. Mai wurden sie nach Wilhelmshaven in die Kommandantur an der Wiesbadenbrücke gebracht. Hier verhörte sie der Reihe nach ein höherer Offizier im Beisein von anderen Offizieren. Ohne irgendwelche Erklärungen fuhr man die Männer dann nach Jever zurück und ließ sie laufen.

Auch Pastor Schröder wurde zeitgleich mit den anderen zur Kommandatur gebracht und von denselben Offizieren verhört. „Ein Leutnant erschien im Pfarrhaus und sagte, ich solle mitkommen. Mir war natürlich klar, wie prekär die Lage war. Er brachte mich im Wagen von Redelfs, dem Geschäftsführer des „Jeverschen Wochenblatts“, nach Wilhelmshaven. Ein vernünftiger Offizier, nach meiner Erinnerung ein Kapitänleutnant, verhörte einen nach dem anderen im Beisein des Leutnants. Es verlief alles sehr zivil, denn er ließ sich ruhig und mit korrekten Umgangsformen alles erzählen und hatte sichtlich sofort erfasst, was wirklich vorgefallen war. Er ließ mich frei, und ich habe noch das „Gott sei Dank‘ im Ohr, das Herr Redelfs ausstieß, als ich zum PKW zurückkam.“

Schröder, der als Gegner galt, wurde verhaftet, weil man diesen prominenten Bürger fälschlich für den Drahtzieher hinter der Protestversammlung hielt. Schröder betont, dass er zwar geredet, aber nicht den Anstoß zur Versammlung gegeben habe. „Ich war lediglich ein Teilnehmer wie jeder andere auch. Wer sich das ausgedacht hat, weiß ich bis heute nicht.“ Einige Wochen später suchte der Offizier, der das Verhör geleitet hatte, Schröder auf und ließ sich sein Verhalten in der Angelegenheit bescheinigen. Der Pastor stellte gerne diesen „Persilschein“ aus, der dem Mann bei der Entnazifizierung helfen sollte. Schröders Leumundszeugnis war etwas wert, denn die Kanadier hatten ihn inzwischen zum Bürgermeister von Jever ernannt.

Die verhafteten Jeveraner hatten Glück, dass sie an einen Offizier gerieten, der ausrechnete, was irgendeine andere Entscheidung gegen diese Zivilisten bald für ihn selbst bedeuten würde. Natürlich war am 4. Mai der Führung in Wilhelmshaven der unmittelbar bevorstehende Abschluss der Waffenstillstandsverhandlungen bekannt. Nur Tage zuvor hätte man, vermutlich gleich an Ort und Stelle, eine standrechtliche Erschießung vorgenommen. Die Miltärjustiz verhängte im Übrigen Todesurteile wegen Fahnenflucht, Wehrkraftzersetzung und anderer Delikte in ansteigender Frequenz, um einem Matrosenaufstand, wie er 1918 erfolgt war, mit Blut vorzubeugen. Von Januar bis Mai 1945 erschossen die Hinrichtungskommandos in Wilhelmshaven mindestens 34 Soldaten. Den letzten Matrosen erhängte man am 3. Mai um 17:41 Uhr. Die SS, die den Jeveranern ebenfalls hätte gefährlich werden können, hatte sich kurz zuvor aus der Jadestadt abgesetzt, jedoch existierten seit März 1945 fliegende Standgerichte auch für die Zivilbevölkerung. Unterhalb der Justiz machte man mit „Verrätern“ auch noch in den letzten Kriegstagen häufig genug kurzen Prozess, bzw. brachte sie sofort um. Gefahr bestand also vor allem darin, dass Scharfmacher in Militär, SS und Partei zur Selbstjustiz griffen, geschützt von den sich auflösenden Verhältnissen. Am 1. Mai 1945 erschossen soldatische „Kameraden“ vier angeblich fahnenflüchtige junge Soldaten am Straßenrand bei Hesel. Glaubt man einem literarisch getönten Zeitungsbericht von 1948, wollte ein wildentschlossener Offizier aus dem Wittmunder Raum die Flaggenhisser hängen lassen, doch seine Kompanie verweigerte am Abend des 4. Mai den Befehl.

Versammlung, Fahne, Delegation und der hierdurch der

militärischen Führung nahegelegte Abzug der Soldaten haben keinen direkten Einfluss darauf gehabt, dass die Stadt schließlich vom Kampf verschont blieb. Jevers Schicksal entschied sich nicht auf dem Alten Markt, auch nicht in Wilhelmshaven, sondern eine Ebene darüber: Am grünen Tisch zwischen Feldmarschall Bernhard Montgomery, dem Oberbefehlshaber an der britischen Front, und Reichskanzler Karl Dönitz.

Faszinierend ist die Parallelität der Ereignisse auf den Ebenen der großer Politik und des Lokalen: Während die Bevölkerung in Jever zusammenlief, landete der Abgesandte der Reichsregierung, per Flugzeug von Dönitz aus Flensburg kommend, im britischen Hauptquartier bei Lüneburg und übergab Montgomery das Kapitulationsangebot für den Nord-Westen. Als die jeversche Delegation nach ihrem Gespräch mit Joel wieder zum Markt zurückkam, kehrte der Abgesandte mit der Nachricht zu Dönitz zurück, Montgomery habe die Teilkapitulation grundsätzlich nicht abgelehnt, aber auch noch die unverzügliche Übergabe aller Schiffe im Geltungsbereich zur Bedingung gemacht. Zur Zeit der Verhöre der Jeveraner, am Vormittag des 4. Mai, flog der Abgesandte mit der Vollmacht zurück, sämtliche Bedingungen Montgomerys zu erfüllen. Um 18:30 Uhr standen die Unterschriften schließlich unter dem Dokument. Mit dem 5. Mai, 8 Uhr, sollte Waffenruhe eintreten. Der Angriff auf den Festungsring Wilhelmshaven war am 3. Mai aus Stellungen unmittelbar vor Neuenburg und Varel eingeleitet worden und hatte zum Zeitpunkt der Unterzeichnung seine Erkundungs-Spitzen kurz vor Sande. Auch aus Richtung Aurich-Wiesmoor rückten die Alliierten heran. Später wurde bekannt, dass für den 5. Mai ein vorbereitender, schwerer Luftangriff auf den Ring geplant war, der am 4. Mai abgesagt wurde.

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6. Die Soziologie der Hauptakteure

Otto Rühlmann hisste zusammen mit zwei anderen Jeveranern die weiße Fahne am Schlossturm (Foto ca. 1960, Archiv H. Peters)
Otto Rühlmann hisste zusammen mit zwei anderen Jeveranern die weiße Fahne am Schlossturm (Foto ca. 1960, Archiv H. Peters)

Betrachtet man die Hauptakteure, lassen sich die sozialen und politische Hintergründe des Geschehens klarer fassen. Über Edgar Hinrichs ist nur wenig bekannt. Dieser kleine Viehhändler mit Landstelle war vor 1933 in der KPD organisiert. Als Fahnenträger bei einem Umzug wurde damals aktenkundig. Der Zimmermann und Maurer Johann Lünemann (1888-1967) trat mit 16 Jahren der SPD bei und war hier und im „Reichsbanner“ bis zum Verbot 1933 aktiv. Er gehörte zu den „Männern der ersten Stunde“ nach 1945. Im Juli 1945 wurde er zum „Beigeordneten“ des von der Militärregierung bestellten Bürgermeisters ernannt und im Oktober 1945 in diesem Amt durch eine Wahlversammlung jeverscher Bürger bestätigt. Auch später war er im kommunalen Bereich aktiv. Otto Rühlmann war vor 1933 in Dornum Polizist und erhielt dort als aktives SPD-Mitglied Berufsverbot. Später erteilte er als Bademeister in der Badeanstalt am Hookstief Schwimmunterricht und arbeitete als Kassierer. Bei den ersten freien Wahlen der Nachkriegszeit, den Gemeinderatswahlen von September 1946, kandidierte er für die SPD und arbeitete auch später für diese Partei im Stadtrat. Der Maurer Johann Warner, ein Redner auf der Versammlung, gehörte vor 1933 für die SPD dem jeverschen Stadtrat an.

Adolf Tammen nahm dem NSDAP-Kreisleiter Hans Flügel die Pistole ab (Foto ca. 1943, Archiv H. Peters)
Adolf Tammen nahm dem NSDAP-Kreisleiter Hans Flügel die Pistole ab (Foto ca. 1943, Archiv H. Peters)

Während die Fahnenhisse dem Arbeitermilieu zugeordnet werden können, entstammen die Entwaffner des Kreisleiters einem handwerklich und gewerblich geprägten Bürgertum. Heinrich Tammen (1885-1961) betrieb während der Kriegszeit die größte Schlachterei am Ort, die bis nach Wilhelmshaven lieferte und eher schon als kleine Fabrik zu kennzeichnen ist. Sein Bruder Adolf Tammen (1894 – 1962), ebenfalls Fleischer von Beruf, kaufte das Schlachtvieh auf. Beide sollen als Gegner gegolten und wegen ihrer „großen Klappen“ auch schon mal Ärger mit Nazis der Ortsgruppe gehabt haben. Ein politisches Engagement der Gebrüder vor 1933 ist nicht bekannt. Heinrich Tammen wurde 1948 für die FDP in den Stadtrat gewählt. Der Schmiedemeister Johann Albers (1890 – 1964), der als NS-Gegner 1933 seine berufsständigen Ehrenämter verloren hatte, gehörte zu den politisch herausragenden Figuren der Wiederaufbauzeit. 1945 wurde er von der Militärregierung zum Landrat des Kreises Friesland bestellt und übte dieses Amt auch seit der ersten freien Kreistagswahl im Oktober 1946 bis zu seinem Tode aus. Das Gründungsmitglied der FDP gehörte dem letzten, ernannten Oldenburger Landtag von 1946, danach bis 1959 dem Niedersächsischen Landtag an. In den Umkreis dieser liberal eingestellten Persönlichkeiten gehört auch der Apotheker Hans Busch (geb. 1903), der ab 1952 für die FDP dem Kreistag angehörte und auch eine Zeit Bürgermeister war. Die FDP war auch in Friesland ein Sammelbecken von Nazis der zweiten Reihe. Das gilt mit Sicherheit nicht für Johann Albers.

Friedrich Christians gehörte zur Bürger- Delegation an die NSDAP-Gauleitung. (Foto von ca. 1960, Archiv H. Peters)
Friedrich Christians gehörte zur Bürger- Delegation an die NSDAP-Gauleitung. (Foto von ca. 1960, Archiv H. Peters)

Die Delegation hingegen bestand aus prominenten bürgerlich-nationalen Honoratioren der Weimarer Republik, die – parallel zum Aufstieg der Nationalsozialisten – Zug um Zug zu Handlangern der Nazis wurden und schließlich in der NSDAP endeten. Wegen ihres Status konnten die beiden Männer annehmen, als Gesprächspartner der Gauleitung akzeptiert zu werden. Der Rechtsanwalt Friedrich Christians stand ursprünglich der DNVP nahe, gehörte seit 1928 dem Stadtrat an und verblieb in ihm auch noch nach 1933 als Mitglied der mit der NSDAP verbündeten „Kampfront Schwarz-Weiß-Rot“. Danach galt er als überzeugter Nationalsozialist und kam auch schon mal in Parteiuniform zum Kegelclub. 1948 schließlich saß Christians für die CDU im Stadtrat. Deutschnationale Grundausrichtung bestimmte auch den Eisenwarenhändier Emil Brader (1875 – 1953), der den Stadtrat von 1921 bis 1931 als letzter Vorsitzender vor der NS-Dominanz leitete. Im Januar 1931 inthronisierte Brader-Christians-Gruppe den NSDAP-Ortsgruppenleiter Karl Gottschalck als Nachfolger Braders. Brader und Christians stellten die rechtsbürgerlichen Kreise demonstrativ an die Seite der NSDAP. Die NSDAP verdankte den beiden nicht nur die triumphale „Machtübernahme“ 1931 im Stadtrat, sondern auch das spektakuläre Verbot der Feier der Weimarer Reichsverfassung im Oktober desselben Jahres. Brader lehnte es nach 1933 ab, an Hermann Gröschler, mit dem er lange im Stadtrat zusammengearbeitet hatte, etwas zu verkaufen, weil dieser Jude war.

Der ebenfalls verhaftete Dr. Christel Matthias Schröder (1915 -1996) trat als sehr junger Mann im November 1936, noch vor dem theologischen Examen, die Vakanzstelle des evangelischen Pastors an. Schröder: „Ich habe in der dunklen Nazi-Zeit versucht, die positiven Werte des Christentums herauszustellen. Meine Methode war, im Grundsätzlichen zu wirken und nicht unnötig zu provozieren.“ In den Räumen der Pastorei am Kirchplatz veranstaltete er theologische Vorträge mit hochwertigen Referenten wie Theodor Litt, Friedrich Heiler und Martin Dibelius. Schröder trat trotz erheblicher theologischer Differenzen zeitweise der Bekennenden Kirche bei und setzte sich damit in den Gegensatz zum Oldenburger Oberkirchenrat, dessen Mitglieder, insbesondere Dr. Georg Müller-Jürgens, Nazis und „Deutsche Christen“ waren. Zur verfolgten jüdischen Gemeinde Jevers hatte Schröder keine Kontakte. Der damals liberal-konservative Geistliche wurde von der Militärregierung Mitte 1945 mit der Wahrnehmung der Geschäfte eines Bürgermeisters beauftragt, bis ihn im August 1945 Konsul Kampf in diesem Amt ablöste. Er stellte in der Zeit der Entnazifizierung fast jedem, der wollte, „Persilscheine“ aus. 1951 wechselte er nach Bremen.

Der Volksauflauf vom 3. Mai 1945 knüpfte über seine handelnden Personen deutlich an die vor dem Aufstieg der NSDAP in Jever vorherrschenden politisch-sozialen Milieus an. Es sind zweitens erstaunlich viele später wichtige Personen der Nachkriegszeit in irgendeiner Form auf dem Markt aktiv gewesen. So gesehen, ist der 3. Mai eine Schnittstelle von Weimarer Republik und 1949 gegründeter Bundesrepublik. Der Volksauflauf war eine Art Warmlaufen für die Renaissance alter politisch-sozialer Milieus nach der Ausschaltung der NS-Funktionselite durch die Militärregierung.

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7. Wertung der Vorkommnisse des 3. Mai 1945

Die Fahnenhisser haben ihr Leben riskiert, das steht außer Frage. Aber sie haben auch eine Zuspitzung der Situation mit veranlasst, die unter anderen Umständen zu einem Blutbad auf dem Alten Markt hätte führen können. Alle Teilnehmer des Auflaufs gingen ein Risiko ein. Die Menschenmenge wäre für die feindlichen Jagdbomber ein leichtes Ziel gewesen und völlig unkalkulierbar war, wie die Marinesoldaten reagieren würden. Diese räumten den Marktplatz schließlich ohne Waffengebrauch, doch der erste, dann zurückgezogene Befehl hatte „Gewalt“ nicht ausgeschlossen. In zahlreichen anderen Städten und Gemeinden hissten Bürger weiße Fahnen, auch fanden ab und an spontane Versammlungen statt, wie z.B. ebenfalls am 3. Mai in Aurich. Hier suchten im Anschluss daran einige Bürger auf eigene Faust den Kontakt zu den vor der Stadt stehenden Kanadiern, überwanden den Widerstand der örtlichen Militärs und bewirkten am 4. Mai einen separaten Waffenstillstand. Ein derartiger Massenauflauf jedoch, der die Entwaffnung eines Kreisleiters, die weiße Fahne und eine Bürgerdelegation an die Gauleitung nach sich zog, der das Militär zur vorsorglichen Entwaffnung des Volkssturms veranlasste, in dessen Folge die Bürger Panzersperren abbauten und der – möglicherweise! – zum Abzug der Stadtkompanie führte, stellt einen vielleicht einmaligen Fall dar. Aber anders als in Aurich lassen sich keine verändernden Auswirkungen auf das Kampfgeschehen nachweisen, obwohl die Entwaffnung des Volkssturms durch die Soldaten und der Abbau der Panzersperren durch die Bürger sicherlich nicht ohne Einwirkung geblieben wären.

Von Widerstand sollte man besser nicht reden, wenn die Proportionen des Begriffs gewahrt bleiben sollen. In einem Selbstschutzreflex wollten die Menschen am vorletzten Kriegstag das eigene Leben und das eigene Dach über dem Kopf retten. Bedenkt man aber, dass keinesfalls selbst im Angesicht des Endes das Gefüge des nationalsozialistischen Deutschland von innen heraus zusammenbrach – es gab keinen Aufruhr oder gar bewaffnete Aufstände – waren die jeverschen Ereignisse dennoch nicht nichts.

Proteste von Familienangehörigen und der Kirche beendeten im September 1941 die Ermordung der nicht-jüdischen Geisteskranken. Als „arisch verheiratete“ Juden 1943 aus Berlin in die Vernichtung deportiert worden sollten, führte eine Demonstration ihrer Ehefrauen zur Freilassung von einigen von ihnen. Man weiß heute wie sehr gerade totalitäre Regimes von der Zustimmung ihrer Bevölkerung abhängig sind und dass Terror nicht alles erklärt. Das gilt selbst für das äußerst brutale NS-Regime, das Massenloyalität bis zum Schluss willens und fähig war zu erzeugen, wie u.a. Götz Aly aufgezeigt hat. Die eigennützige last minute action entspricht im Prinzip der Gesellschaftlichkeit der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft, der der Besitz, den zu mehren sie versprochen hatte, Basis und Grenze zugleich war.

Die letzte nicht von oben organisierte Volksversammlung in Jever hatte am 10. November 1938 stattgefunden, um die Ausschreitungen der SA gegen die Juden mit gemischten Gefühlen zu betrachten oder selbst daran teilzunehmen. In den Monaten danach konnten die Häuser und Geschäfte der Juden besonders preiswert übernommen werden. Nur wenige Einwohner standen den seit 1933 offen entrechteten Juden privat und mit menschlichen Gesten zur Seite. Der Massenauflauf vom 3. Mai 1945 zeigt für mich das Fehlen von Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Jever eher auf, als dass er als solcher angesehen werden sollte.

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8. Die Befreiung von Jever durch die polnische Panzerarmee – 4. bis 20. Mai 1945

Noch am Morgen des 4. Mai rückten die jeversche Wachkompanie in den Raum Wittmund aus. Auf der Straße zur Front seien sie von entgegenkommenden, versprengten und verwundeten Soldaten ungläubig angestarrt worden, berichtet Popken. Als auf alliierter Seite um Mittag die Unterschriftsreife der Kapitulation durchsickerte, gab man in die Befehlskette, die bevorstehenden Angriffe nicht mehr offensiv voranzutreiben. Um Mitternacht waren beide Seiten über die neue Lage – Waffenstillstand morgens 8 Uhr – informiert.
Bis 7:59 Uhr wurde zumindest mit Distanzwaffen gekämpft. So ließ der „Festungskommandant“ Kapitän zu See Walter Mulsow den in einem Wilhelmshavener Hafenbecken nach einem Bombentreffer auf Grund liegenden Panzerkreuzer „Köln“ mit seinem intakten 15cm- Geschütz bis ganz zuletzt in Richtung Varel / Westerstede auf den alliierten Truppenaufmarsch schießen. Die sich dort befindende Einheit der 1. Polnischen Panzerdivision antwortete mit Sperrfeuer.
Ab 8 Uhr war der 5. Mai dann ein Tag der Organisation der Übergaben der noch nicht eingenommenen Ortschaften, vor allem des vorrangigen Wilhelmshaven, sowie der Klärung weiterer Fragen wie der Entwaffnung und des Verbleibs der Wehrmachtsverbände. Zu diesen Zwecken fand in Bad Zwischenahn eine Besprechung aller Divisionskommandeure des 2nd Canadian Corps, darunter auch der legendäre General Stanislaw Maczek (1892 – 1994), des Befehlshabers der 1. Polnischen Panzerarmee als Teil des Corps, statt. In diesem Rahmen hatte der herbeibefohlene General Erich Straube (1877 – 1971) als Befehlshaber der deutschen Truppen im Abschnitt des 2nd Canadian Corps zunächst die Kapitulation formell zu erklären. Generalleutnant Guy Simonds (1903 – 1974) verkündete, dass Einheiten der 1. Polnischen Panzerdivision und nicht Kanadier Wilhelmshaven, die wichtigste Stadt im Operationsgebiet, einnehmen sollten. Das stieß auf Besorgnis der deutschen Offiziere, wie Maczek berichtet: „ Zum ersten Mal durchzog die in Haltung stehenden deutschen Offiziere ein Zusammenschrumpfen. Ihre Augen, die mich vorher gemieden hatten, richteten sich augenblicklich auf mich, auf meine polnische Uniform. Man musste sie nicht daran erinnern, dass sie von unserem Land aus diesen fürchterlichen Krieg entfesselt hatten und und jetzt im Antlitz eines Repräsentanten der kämpfenden polnischen Einheiten – ihre Waffen streckten.“ Wilhelmshaven wurde allgemein als Anerkennung für die überragenden militärischen Leistungen der Polen empfunden.
Der 5. Mai, der Interimstag, war in Jever wegen der zu erwartenden Ausgehverbote durch Hamsterkäufe in den Läden gekennzeichnet. Georg Janßen-Sillenstede notierte: „Stimmung der hiesigen Bevölkerung: Wir haben hier das große Los gewonnen, indem wir Dach und Bett behalten haben!“. Popken berichtet von seiner Fahrradfahrt am 5. Mai von der aufgegeben Front nach Wilhelmshaven: „Fast meinte man, es sei Ostern, denn überall in den verstreut liegenden Dörfern des Jeverlandes brannten Feuer. An Jever vorbei kam ich schließlich durch Sillenstede. Auch hier ein Feuer vor einem Haus, wohl das Büro des NS-Ortsgruppenleiters, die Flammen immer wieder genährt von Aktenbündeln und Büchern. Auch in Sengwarden und Fedderwarden Parteiaktenverbrennung.“
Mit dem Überfall auf Polen hatte Deutschland den Krieg begonnen – polnische Panzertruppen beendeten ihn am 6. Mai 1945 in Wilhelmshaven und Jever. Eine Kampfgruppe unter dem Befehl von Oberst Antony Grudzinski aus dem Raum Grabstede und Bockhorn übernahm Wilhelmshaven, wo sie um 8 Uhr eintraf.

Jever am 6. Mai 1945: Der „Hof zu Oldenburg“, Hauptquartier der polnischen Brigade, mit Hoheitszeichen und Panzer. Das Foto wurde vom NS-Verfolgten Adolf Hirche trotz allgemeinen Fotografierverbots gemacht. (Sammlung A. Hirche, Jerusalem)
Jever am 6. Mai 1945: Der „Hof zu Oldenburg“, Hauptquartier der polnischen Brigade, mit Hoheitszeichen und Panzer. Das Foto wurde vom NS-Verfolgten Adolf Hirche trotz allgemeinen Fotografierverbots gemacht. (Sammlung A. Hirche, Jerusalem)

Eine andere Kampfgruppe unter Oberst Franciszek Skibinski (1899 – 1991), dem engsten Mitarbeiter von General Maczek, zog über Neuenburg und Friedeburg nach Jever und traf dort im Laufe des Vormittags ein. Skibinski berichtet: „In den vorüberziehenden Dörfern und Städtchen – weiße Fahnen. Längs der Straßen – jubelnde Massen von befreiten Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern. Erschrockene Gesichter der deutschen Zivilisten. Der Frost ist auf den Hund gekommen! Auf dem Hotel in Jever, in dem das Hauptquartier unserer Brigade sein sollte, wehte schon eine riesige polnische Fahne. Vor dem Eingang standen in einer Reihe drei bäuchige Herren mit Hüten in der Hand: der Landrat, der Bürgermeister und der Hotelwirt. Ihre Beine zitterten. Ich stieg aus dem Panzer mit einem Schilfrohr in der Hand und dem Dolmetscher an meiner Seite und ging auf das Trio zu, das sich bis zur Hüfte verbeugte. Ich beliebte zu sagen: `Wem irgendwem in der Stadt zumute sein sollte, einen Stock auf einen polnischen Soldaten oder einen Stein auf ein polnisches Quartier zu werfen, so werdet ihr Drei gehängt und die Stadt wird in Rauch aufgehen.´ Das Trio verbeugte sicher wieder bis zur Erde und beschmutzte sich mit dem Dreck. Sie antworteten etwas, was ich nicht mehr hörte. Ich drehte mich um und ging zu meinem Stab.“

General Stanislaw Maczek und Oberst Franziscek Skibinski von der 1. Polnischen Panzerarmee. Skibinski (rechts) nahm am 6. Mai 1945 die Übergabe Jevers ab. (Foto: Sikorski Museum, London)
General Stanislaw Maczek und Oberst Franziscek Skibinski von der 1. Polnischen Panzerarmee. Skibinski (rechts) nahm am 6. Mai 1945 die Übergabe Jevers ab. (Foto: Sikorski Museum, London)

Zum Verständnis: Skibinskis Panzerarmee hatte allein seit der Überschreitung des Rheins 604 Mann verloren; zuletzt hatte es hohe Verluste am Küstenkanal und bei Hesel gegeben. Die Soldaten waren vollkommen informiert über die deutschen Verbrechen in Polen und hatten zuvor die Konzentrationslager im Emsland befreit. Skibinski selbst hatte 1939 in Polen gegen die Deutschen gekämpft, war nach der Niederlage über den Balkan nach Frankreich ausgewichen, hatte dort im Mai 1940 mit der polnischen Exilarmee vergeblich die deutsche Invasion bekämpft und war mit der in Schottland formierten Polnischen Panzerarmee ab Juni 1944 über die Normandie, Belgien und die Niederlande bis ins Weser-Ems-Gebiet vorgedrungen.
Am „Hof zu Oldenburg“ wurde der polnische Adler angebracht. Das Hitler-Bild hatte der Wirt bereits vorher abgenommen. Origineller Weise standen Männer der Feuerwehr in voller Uniform überall in Jever herum, um als Symbole der Ordnung den erwarteten Plünderungen, die aber faktisch ausblieben, vorzubeugen.
Die Befehle sahen hauptsächlich u.a. eine 24 stündige Ausgangssperre für die Bevölkerung und danach eine uhrzeitlich geregelte Ausgangssperre von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang vor. Sie waren ursprünglich härter, wurden aber schon abends am 6. Mai gelockert.
Eine 1910 geborene Hausfrau 1985: „Große Angst hatte ich nicht vor diesem Tage, denn ich wurde außer Haus überrascht. Jemand sagte: `Die Polen sind schon bei euch!´ Und da standen sie, acht Soldaten bekamen bei uns Einquartierung. Musik scholl aus den weitgeöffneten Fenstern des nahen Kreisamtsgebäudes. Die hier untergebrachten Soldaten sangen.“ Es befanden sich in Jever zu diesem Zeitpunkt bereits Flüchtlinge aus Ostpreußen, die Schlimmes erzählten. Die Mädchen und jungen Frauen hielten sich zunächst allgemein eher versteckt. Sie tauchten aber bald wieder auf, als klar war, dass die polnischen Besatzer keine schweren Übergriffe verübten. „Ursprünglich hatten wir ja Angst vor den Polen, aber sie haben sich tadellos benommen“, sagte 1985 ein Zeitzeuge für viele. Jedoch waren Alkohol, Radiogeräte und Fotoapparate begehrt. Viele Polen sprachen deutsch.
Seit 1940 hatten im Jeverland viele Kriegsgefangene oder verschleppte Ausländer, vor allem Polen, Zwangsarbeit verrichten müssen. In Jever befand sich am Englischen Weg ein Lager mit 300 Polen, dessen Befreiung Ängste bewirkte. Die sog. Zivilpolen bedankten sich bei ihren Landsleuten mit Blumen. In der Stadt übten die ehemaligen Arbeitssklaven nur wenig Rache, obwohl sie dafür Grund gehabt hätten. Auf dem Land war das anders. „Dort, wo die polnischen Gehilfen es gut gehabt hatten, betrugen sie sich meist anständig. Aber wehe dem, bei dem die Behandlung zu wünschen übrig gelassen hatte! Die Misshandlungen waren mitunter schwer.“, berichtet Woebcken.
Die Polen waren als reine Besatzungsarmee tätig und so für vor allem für die Entwaffung der deutschen Soldaten – ein großes Sammellager befand sich in Mariensiel – und für die Kontrolle der Wehrmachtsverbände im Besatzungsgebiet verantwortlich. Am 19. Mai besuchte der Oberfehlshaber der Polnischen Exilarmee und Kriegsheld der Schlacht von Monte Cassino, General Wladyslaw Anders (1892 – 1970), seine Streitkräfte. In Wilhelmhaven fand eine Siegesparade auf der Bismarckstraße statt und auf dem Flugfeld von Upjever die feierliche Überreichung von Orden an die polnischen und kanadischen Soldaten durch Generalleutnant Guy Simonds und die Generäle Anders und Maczek.

Militärflugplatz Upjever, 19. Mai 1945: Generalleutnant Guy Simonds (l.), der Befehlshaber des 2nd Canadian Corps, begrüßt General Wladyslaw Anders, den Befehlshaber der Polnischen Exilarmee. (Sikorski Museum, London)
Militärflugplatz Upjever, 19. Mai 1945: Generalleutnant Guy Simonds (l.), der Befehlshaber des 2nd Canadian Corps, begrüßt General Wladyslaw Anders, den Befehlshaber der Polnischen Exilarmee. (Sikorski Museum, London)
Militärflugplatz Upjever, 19. Mai 1945: Überreichung von Orden an polnische und kanadische Soldaten durch (v.l.) Generalleutnan Guy Simonds, unbekannt, General Stanislaw Maczek und General Wladyslaw Anders (Sikorski Museum, London)
Militärflugplatz Upjever, 19. Mai 1945: Überreichung von Orden an polnische und kanadische Soldaten durch (v.l.) Generalleutnan Guy Simonds, unbekannt, General Stanislaw Maczek und General Wladyslaw Anders (Sikorski Museum, London)

Bereits am 20. oder 21. Mai verließen die Polen das Jeverland und Wilhelmshaven, um in dem neuen Hauptquartier Meppen im Emsland als Besatzungsarmee im Rahmen der britisch-kanadischen Truppen und als Anlaufstelle für die polnischen Displaced Persons in der gesamten britischen Zone tätig zu werden. Kanadische und englische Einheiten rückten nach.
Erstaunlich schnell verlief das Alltagsleben wieder in geregelten Bahnen. Die Militärregierung Friesland griff auf eine personell reduzierte, aber intakte Verwaltung zurück. In den ehemaligen NSDAP-Schaukästen hängte sie noch am 6. Mai ihre ersten Anweisungen aus.

Aushang des Landrats vom 7. Mai 1945 im Befehl der Militärregierung (Schloss-Archiv Jever)
Aushang des Landrats vom 7. Mai 1945 im Befehl der Militärregierung (Schloss-Archiv Jever)

Erst am 20. Mai wurden die NS-Funktionsträger verhaftet und anschließend in speziellen Lagern interniert. Nach anfangs strengen Maßstäben entnazifizierten die Briten 1945/46 den öffentlichen Dienst, die Politik und im Ansatz auch die Privatwirtschaft. In ihrem Bestreben, einen demokratischen Neuanfang zu ermöglichen, gaben sie zunächst NS-Gegnern und Unbelasteten die kommunalen Schaltstellen. Diese politisch-moralische Klarheit blieb aber Episode.
Befragte man in den 1980er Jahren Zeitzeugen, wie sie 1945 das Ende des NS-Regimes empfanden, gaben sie zurückhaltende Gefühle zu Protokoll. Erleichterung, Hoffen auf Normalität standen 1945 obenan. Die Menschen waren durch die Folgen des Nationalsozialismus dermaßen mit Alltagsproblemen vollgepackt, dass sie sich große Gefühle nicht mehr leisteten. Auch hatten sie ja gerade eine „große“, „tausendjährige“ Zeit hinter sich, die Familienangehörigen und Freunden das Leben gekostet hatte. Der Tag der Befreiung war gleichzeitig auch der Tag der Niederlage in einem Krieg, den man lieber gewonnen hätte, eben der Tag der Besetzung durch den Feind – jedenfalls für die sehr große Mehrheit. Eine 1907 geborene Hausfrau: „Es ging darum, den Bauch voll zu kriegen, an die Familie zu denken. Dann haben wir wieder aufgebaut.“ Ein im Jahre 1945 40 Jahre alte Bankkaufmann: „Ich weiß noch, wie ich mir die Plakate am Tag nach der Besetzung durchlas und schließlich zu mir sagte: „Gott sei Dank.“
Eine 1933 geborene Schriftstellerin, die als „halbjüdisches“ Mädchen mit viel Glück überlebt hatte: „Am 6. Mai fuhren die englischen Lastwagen und Panzer in Jever ein. Ich lief aus unserem Versteck auf dem Kinoboden auf den Alten Markt und sah dort einen Soldaten, der sich dort mit einem Primus-Kocher etwas zubereitete. Er sah mich an. Ich war zunächst verwirrt oder erschreckt und lief wieder nach oben. Dann realisierte ich langsam: Das waren Freunde, keine Feinde. Ich war das erste Mal in meinem Leben frei und ohne Angst.“ Eva Hirche wanderte 1952 nach Israel aus. Sie fühlte sich unter den die NS-Zeit verdrängenden Einwohnern ähnlich isoliert, wie sie vor 1945 von fast allen ausgegrenzt worden war.

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Quellenhinweise (unvollständig):

  • Basnizki, Eva: Teils-Lebensgeschichte 1933 – 1945.- Ms., 10 S., 1983 Jerusalem
  • Chronik des Landkreises Friesland während des Zweiten Weltkriegs; insbes. „Besondere Ereignisse…“; Protokolle der Interviews mit Otto Rühlmann und Hermann von der Heide 1968 (Nds. Landesarchiv Oldenburg)
  • Fahle, Günter: Verweigern, Weglaufen, Zersetzen: Deutsch Militätjustiz und ungehorsame soldaten 1939 – 1945: Das Beispiel Ems-Jade.- Bremen 1990
  • Janßen-Sillenstede, Georg: Tagebuch Nr. 43 [1945] (Schloss-Archiv Jever)
  • Joel, Georg: Brief vom 8.10.1981 (Archiv Stefan Appelius)
  • Jeversches Wochenblatt , Jan. bis Mai 1945
  • Maczek, Stanislaw: Od podwodny do czolgu.- Edinburgh 1961 [„Vom Fuhrwerk zum Panzer“, übersetzt von Siegfried Gorzel]
  • Peters, Hartmut: Von der Revolte zur Restauration: Jever zwischen der Novemberrevolution 1918 und dem Beginn der Bundesrepublik 1959/51.- In: Ein Blick zurück.- Jever 1986
  • Popken, Helmut: Die letzten Tage des „Dritten Reichs“ in Jever: Vom Schlossturm wehte die weiße Fahne.- Ms., 8. S., 1986
  • Skibinski, Franciszek: Pierwsza Pancerna.- Warschau 1979 [„Die Erste Gepanzerte“, übersetzt von Siegfried Gorzel]
  • Schröder, Christel Matthias: [Lebenserinnerungen] 1936 – 1951.- Ms, 7 S.; sowie Briefe an den Autor und autorisierte Gesprächsprotokolle
  • Wegmann, Günter: Das Kriegsende zwischen Ems und Weser 1945.- Osnabrück 1982
  • Woebcken, Carl: Chronik der Gemeinde Kniphausen.- Ms., 15 S. , Nov. 1945 (Bibliothek des Mariengymnasiums)
  • Zeitzeugen (Interview-Protokolle, 1985 – 1998, Archiv H. Peters)
    • Andrae, Oswald
    • Basnizki, Eva
    • Berger, Agathe
    • Brink, Fritz
    • Christians, Rudolf
    • Czubaj, Czeslaw
    • Drost, Gerda
    • Ehrentraut, Heinrich
    • Flügel, Hans
    • Genters, Frau
    • Hansen, Walter
    • Köhler, Hans (Johannes)
    • Lünemann, Johannes
    • Ommen, Ommo
    • Orth, Friedrich
    • Popken, Helmut
    • Rastede, Otto
    • Schmidt, Anneliese
    • Schröder, Christel Matthias Dr.
    • Schulz, Frau
    • Wille, Heinrich
    • Woschinski, Marianne

Vortrag, gehalten am 4. Mai 2015 im Graf-Anton-Günther-Saal Jever
Auf Fußnoten im Text wurde verzichtet.
Hartmut Peters, 12. Mai 2015