Jüdische Schulkinder in Rüstringen: Schicksale zwischen Emigration und Holocaust

von Ulrich Räcker-Wellnitz, M.A.

 

Der höheren Gerbrechtschen Privatmädchenschule in der Börsenstraße 66, Ostern 1907 von Franke übernommen, drohte Anfang November 1910 die Schließung. Im „Vertrauen auf die nahe bevorstehende Vereinigung der drei oldenburgischen Jadegebietsgemeinden“ zur Stadt Rüstringen, die dann am 1. Mai 1911 erfolgte, übernahm die politische Gemeinde Bant die Privatmädchenschule als öffentliche höhere Mädchenschule. Übrigens war auch Jungen der Schulbesuch möglich. Am 2. April 1911 trat die Oberlehrerin Dr. Elsa Matz ihr Amt als Schulleiterin an, zu diesem Zeitpunkt nutzte die Lehranstalt noch Räume in verschiedenen Schulen. Wenig später, mit der Einweihung eines provisorischen Schulgebäudes, wurde daraus die Fräulein-Marien-Schule. Dieses Provisorium in der Lessingstraße / Ecke Oldeoogestraße hielt bis 1922, erst dann wurde ein umgebautes Gemeindehaus an der Kirchreihe / Ecke Rosenstraße bezogen.

Das erste Schulgebäude der Frl.-Marien-Schule an der Ecke Lessingstraße / Oldeoogestraße von 1911 – 1922, im Hintergrund die Banter Kirche  (Stadtarchiv Wilhelmshaven)
Das erste Schulgebäude der Frl.-Marien-Schule an der Ecke Lessingstraße / Oldeoogestraße von 1911 – 1922, im Hintergrund die Banter Kirche (Stadtarchiv Wilhelmshaven)

Aus den ersten Schülerverzeichnissen der Fräulein-Marien-Schule geht hervor, dass die meisten Schülerinnen und Schüler schon die Vorgänger-Schule besucht und nahtlos auf die neue Einrichtung gewechselt hatten. Unter ihnen befanden sich einige Kinder jüdischen Glaubens, die in den Verzeichnissen unter Konfession überwiegend mit mos[aisch], nur in einem Fall mit jüd[isch], verzeichnet sind. Ihrem Lebensweg und späteren Schicksal wird im Folgenden nachgespürt.

Unter der Nummer 1 im Verzeichnis wird Lilly Cohen geführt, die am 17. Juni 1895 in Neustadtgödens als Tochter des Kaufmanns Philipp Cohen geboren worden war. Sie hatte seit Ostern 1902 dort die Schule besucht, wechselte dann 1908 zur Frankschen Schule in Bant und weiter zur Fräulein-Marien-Schule. Allerdings ist das Verzeichnis widersprüchlich, denn einerseits besuchte sie seit November 1911 die Klasse I (Abschlussklasse, d. V.), bei ihr wurde andererseits unter Tag der Entlassung der 1. April 1911 eingetragen. Ab 1923 lebte sie in Oldenburg. Als verheiratete Lilly Gerson ist sie im Gedenkbuch des Bundesarchivs (künftig Gedenkbuch) zu finden, nach dieser Quelle emigrierte sie im Mai 1938 in die Niederlande, vom Lager Westerbork wurde sie im April 1943 in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Als Todesort ist das Vernichtungslager Auschwitz angegeben, mit dem 6. Oktober 1944 wurde sie für tot erklärt. Auch ihr Ehemann Georg Gerson, ihr Sohn Peter und die Eltern Philipp Cohen und Klara Cohen geb. Falkenfeld wurden Opfer des Holocaust.

Luise Nissenfeld ist mit der Nr. 131 im Schülerverzeichnis eingetragen, ihr Vorname schrieb sich nach der Geburtsurkunde vom 3. August 1902 Louise. Ihr Vater, der Kaufmann Wolf Nissenfeld, meldete sie als Hausgeburt in seiner damaligen Wohnung Börsenstraße 9. In Bant besuchte sie ab Ostern 1909 die höhere Schule, die sie zu Ostern 1919 verließ. Ihre Geburtsurkunde birgt einen Hinweis auf eine Heirat 1928 in Rüstringen, wenig später brachte sie in Wilhelmshaven zwei Kinder zur Welt. Zwischenzeitlich hatte sie 1925 mit ihrer Familie Nissenfeld Rüstringen mit Ziel Bremen verlassen. Nach einer Eintragung auf dem Geschäfts-Meldeblatt für ihren Vater betrieb dieser ein Geschäft u. a. für Garderoben und Schuhwaren in der Börsenstraße 59, derweil als Wohnsitz Bremen angegeben ist. Dieses Geschäft gab er im Februar 1932 auf. Im Juni 1933 meldete sich Louise Nissenfeld mit Mann und Kindern von Wilhelmshaven nach Maastricht in den Niederlanden ab. Im Sommer 1951 kehrte sie von dort für wenige Monate nach Wilhelmshaven zurück und zog dann nach Düsseldorf um.

Ihr Bruder David Nissenfeld hat die Nr. 161 im Schülerverzeichnis, er kam am 12. Januar 1904 in der Wohnung seiner Eltern in der Mittelstraße 2 zur Welt und wohnte später mit seinen Eltern und Geschwistern in der Wilhelmshavener Straße 37. Ab Ostern 1910 besuchte auch er die Franksche Schule, wurde aber bereits 1913 entlassen. Über seinen weiteren Schulbesuch ist hier nichts bekannt, im Adressbuch ist er mit dem Beruf Kaufmann verzeichnet. Mit seinem 1925 erfolgten Umzug nach Bremen verliert sich seine Spur. Seine Geburtsurkunde trägt keinen Vermerk über Todesort und –datum, auch im Gedenkbuch wird er nicht aufgeführt. Er wird in die USA ausgewandert sein. Der Wilhelmshavener Gerold Hillmann traf bei einem Aufenthalt in Miami in den 1960er Jahren zufällig auf David Nissenfeld.

Am 22. Oktober 1908 kam Gretchen Nissenfeld in Bant zur Welt, die Schwester von Louise und David begann mit der Schüler-Nr. 855 in Klasse X, sie wurde Ostern 1925 entlassen, ohne Bemerkungen zu Zeugnis oder weiterem Schulbesuch. In Begleitung ihrer Mutter und Geschwister zog sie 1925 nach Bremen und emigrierte von dort in die Niederlande. Zwar ist auf ihrer Meldekarte vermerkt, dass ihr vom Konsulat in Maastricht ein bis 1940 gültiger Reisepass ausgestellt worden war, den konnte sie aber für eine weitere Flucht vor den Nationalsozialisten nicht nutzen. Sie wurde am 16. Februar 1943 von Westerbork in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Der 19. Februar 1943 wird als ihr Sterbetag im Gedenkbuch angegeben, mit diesem Datum wurde sie für tot erklärt. Gretchen Nissenfelds Name ist auf den Stelen auf dem Synagogenplatz genannt.

Das zweite Schulgebäude der Frl.-Marien-Schule an der Ecke Kirchreihe / Rosenstraße (Stadtarchiv Wilhelmshaven)
Das zweite Schulgebäude der Frl.-Marien-Schule an der Ecke Kirchreihe / Rosenstraße (Stadtarchiv Wilhelmshaven)

Gisela Kornblum, mit der Nr. 371 eingetragen, wurde am 23. September 1905 in Bant geboren; mit dem Beruf Produktenhändler (Altstoffhändler) ist ihr Vater Jacob dort notiert, die Familie wohnte in der Adolfstraße 35. Ihr Schulbesuch begann am 15. April 1912 in Klasse X, mit einem Schlusszeugnis erfolgte am 1. April 1923 die Entlassung. Die Familie wurde am 10. Oktober 1923 in das Land Oldenburg eingebürgert, nach dem Tod der Mutter am 8. Februar 1928 zog sie mit ihrer jüngeren Schwester Lily nach Bremen. Das Gedenkbuch enthält einen Eintrag zu Gisela Polak, geborene Kornblum, die am 18. November 1941 von Hamburg in das Ghetto von Minsk deportiert wurde. Mit dem 28.Juli 1942 wurde sie mit diesem Sterbeort für tot erklärt.

Lily Kornblum ist im Schülerverzeichnis mit der Nr. 506 eingetragen, als Schwester von Gisela wurde sie am 13. Dezember 1906 in Bant geboren. Ihr Schulbesuch begann Ostern 1913 in Klasse X, sie wurde zu Ostern 1924 mit einem Schlusszeugnis entlassen. Auch sie war 1923 nach Oldenburg eingebürgert worden, gemeinsam mit der Schwester verließ sie 1928 Wilhelmshaven in Richtung Bremen. Ihr Vater Jacob Kornblum, mit der Berufsangabe Kaufmann im Schülerverzeichnis genannt, verstarb am 2. September 1933 in Rüstringen. Über Lilys weiteres Schicksal liefert auch das Gedenkbuch keine Erkenntnis.

Die Tochter Ella des Kaufmanns Samuel Reissner trägt in dem Schülerverzeichnis die Nr. 416, sie kam am 1. September 1902 in Hannover zur Welt. Da die Familie in der Tonndeichstraße 4 wohnte, besuchte Ella zunächst die Heppenser Bürgerschule, ab dem 15. April 1912 die Klasse VII der Fräulein-Marien-Schule und wechselte zum 1. Oktober 1917 auf die Mittelschule. Sie heiratete und findet sich im Gedenkbuch mit dem Familiennamen Verständig, von Paderborn wurde sie am 2. März 1943 nach Auschwitz deportiert.

Jenny Wolf bekam die Schüler-Nr. 505, sie wurde am 23. März 1907 in Bant geboren. Ihr Vater Moses war – wie viele Juden – Kaufmann und wohnte in der Wilhelmshavener Straße 51. Ab Ostern 1913 begann ihr Schulbesuch mit Klasse X und endete am 1. April 1921, unter Bemerkung ist „Studienanstalt“ notiert, ein möglicher Hinweis auf den Beginn eines Studiums. Das Studium u.a. in Hamburg, Heidelberg und Berlin schloss sie als Diplom-Volkswirtin ab. Jenny Wolf meldete dem Standesamt Wilhelmshaven im November 1933 den Tod von Anna Stern aus der Marktstraße, der verwandtschaftliche Bezug ist nicht zu ermitteln, allerdings war die jüdische Gemeinde nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten noch enger zusammengerückt. Ihre preußische Einbürgerung wurde 1934 ersatzlos widerrufen. Im Februar 1940 zog sie von Wilhelmshaven, das die Gestapo „judenfrei“ machte, nach Berlin, von wo sie laut dem Gedenkbuch mit einem Transport Ende Oktober 1941 in das Ghetto von Lodz (Litzmannstadt) deportiert wurde. Für den 4. Mai 1942 ist ihr Tod im Vernichtungslager Chelmno (Kulmhof) verzeichnet. An Jenny Wolf erinnert ihr Name auf den Stelen auf dem Synagogenplatz.

Die Namen der Absolventinnen der Frl.-Marienschule Gretchen Nissenfeld und Jenny Wolf stehen auf  dem Mahnmal für die Ermordeten Juden Wilhelmshavens (Foto 2015, H. Peters)
Die Namen der Absolventinnen der Frl.-Marienschule Gretchen Nissenfeld und Jenny Wolf stehen auf dem Mahnmal für die Ermordeten Juden Wilhelmshavens (Foto 2015, H. Peters)

Eva Lauenger (Nr. 628) geb. 16. Oktober 1906 Hannover, Wilhelmshavener Str. 18 kam 1913 von der 124. Gemeindeschule aus Berlin in die Xa, durchlief alle Klassen und wurde Ostern 1923 mit einem Schlusszeugnis entlassen. 1929 zog die Familie von Rüstringen nach Wilhelmshaven in die Marktstraße 51, als Beruf wird für sie Haustochter angegeben. Für 1932 ist der Fortzug nach Wesermünde (1939 vereinigt mit Bremerhaven, seit 1947 als Bremerhaven Teil des Landes Bremen) zu finden. Hier verliert sich ihre Spur, im Gedenkbuch ist sie nicht aufgeführt.

Isidor Lauenger (Nr. 641) geboren am 30. November 1907 wie seine Schwester Eva in Hannover, begann seine Schulzeit Ostern 1914 in Klasse X b und wurde bereits am 1. Oktober 1916 entlassen. Auf seiner Meldekarte sind verschiedene Lebens- Stationen verzeichnet, darunter Berlin und Hannover. Das Adressbuch 1931/32 führt ihn mit dem Beruf Reisender und der Anschrift Marktstraße 51, auch er verzog 1932 nach Wesermünde. Vermutlich konnte Isidor Lauenger emigrieren, er starb im Juni 1969 in England.

Nach der Vereinigung von Rüstringen und Wilhelmshaven 1937 zur Stadt Wilhelmshaven wurden die Fräulein-Marien-Schule und die Königin-Luise-Schule zum Städtischen Oberlyzeum mit Frauenschule zusammengelegt. Das erweiterte Ausbildungsangebot verteilte sich auf die Schulstandorte Hindenburgstraße (heute Virchowstraße) und Kirchreihe. Zu dieser Zeit war jüdischen Kindern bereits das mittlere und höhere Bildungsangebot verwehrt. Beide Schulgebäude wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört, in den baulichen Resten der ehemaligen Fräulein-Marien-Schule an der Kirchreihe wurde die neue Grundschule Kirchreihe untergebracht.

Durch die Auswertung bislang ungenutzter Quellen lassen sich immer wieder neue Erkenntnisse gewinnen und offene Details zu Fragen der Stadtgeschichte klären, nicht selten allerdings machen die Antworten betroffen.

Stand 27. Nov. 2015

Quellenhinweise

Schülerverzeichnisse der Fräulein-Marien-Schule, Stadtarchiv Wilhelmshaven

Gedenkbuch des Bundesarchivs www.bundesarchiv.de

Erinnerungsbuch Stadt Oldenburg www.erinnerungsbuch-oldenburg.de

Free BMD freebmd.org.uk [Archiv von England und Wales; Geburten, Ehen, Sterbeurkunden]